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Artikel • Treffen der Generationen
Senior Lab – weil Alter nicht gleich Alter ist
Wir leben in einer älter werdenden Gesellschaft, das hat sich inzwischen herumgesprochen. Umso überraschender ist es, dass der demographische Wandel nur wenig Berücksichtigung in der Labormedizin findet: Als Referenzwerte für Analysen dienen oft Daten jüngerer Jahrgänge – das kann zulasten der korrekten Interpretation bei Senioren führen. Prof. Dr. med. Kai Gutensohn, Geschäftsführer und Ärztlicher Leiter des aescuLabors in Hamburg, erklärt, worin sich Alt und Jung unterscheiden und welche Folgen das für die Labordiagnostik haben muss.
Bericht: Daniela Zimmermann
Über-65-Jährige machen derzeit etwa 19,4% der EU-Bevölkerung aus (Quelle: Europäische Kommission/Eurostat; Stand 2017), Tendenz steigend. Aktuelle Prognosen gehen davon aus, dass sich vor allem der Anteil der Menschen über 80 Jahre in den kommenden Jahrzehnten drastisch erhöhen wird. „Das macht deutlich, wie groß der Bedarf einer echten Altersmedizin ist“, sagt Gutensohn. „Denn viele Erkrankungen stellen sich in dieser Personengruppe ganz anders dar als bei Jüngeren und auch die Diagnose ist in vielen Fällen schwieriger. Wir brauchen daher in der Labormedizin eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Thema Altern, eine Art senior lab.“
Das beginnt bereits mit den Referenzwerten: „In der Laboranalytik werden Grenzbereiche definiert, die als „Norm“ gelten. Diese Werte werden jedoch weitgehend aus der Gruppe von 20- bis 40-Jährigen generiert. Es stellt sich also die Frage: Sind diese Referenzwerte im Labor überhaupt altersgerecht?“ Während es beispielsweise in der Hämatologie für Kinder von der Geburt bis zum 18. Lebensjahr jeweils sehr differenzierte Abgrenzungen gibt, fehlen diese bei älteren Menschen fast völlig. Dabei gibt es auch im Seniorenalter wesentliche Unterschiede, etwa zwischen „young old people“ (65-74 Jahre alt), „aged“ (75-84) und „elderly old“ (über 85), erklärt Gutensohn. „Darüber hinaus hat das Geburtsdatum nur bedingt etwas mit dem biologischen Alter zu tun.“ Das alles wirkt sich unter anderem auf die Pharmakokinetik und -genomik aus, denn viele Medikamente wirken im Körper älterer Patienten anders als bei jüngeren.
Quelle: European Commission / Eurostat (https://ec.europa.eu/eurostat/); Stand 2018
Multimorbidität und Polypharmazie erweitern das Spektrum
Wesentliche Unterschiede zwischen Jung und Alt gehen auch auf die höhere Prävalenz chronischer Erkrankungen sowie Multimorbidität zurück: „Bei vielen Über-65-Jährigen liegen drei oder mehr Beschwerden zugleich vor.“ Die Hauptanliegen, wegen derer ein Arzt aufgesucht wird, sind Schwindel und Kurzatmigkeit, gefolgt von Herz- und Rückenschmerzen sowie Blutdruckbeschwerden, zählt der Experte auf. Diese sind auf eine Vielzahl von alterstypischen Ursachen zurückzuführen, am häufigsten auf Diabetes mellitus, Herzerkrankungen, Hypertonie, Erkrankungen des Skeletts und des Bindegewebes, Arthritis, Bronchitis sowie grippale Infekte. Multimorbidität führt meistens zur parallelen medikamentösen Behandlung – auch diese Polypharmazie muss bei der Diagnostik älterer Menschen berücksichtigt werden.
Das Alter der Patienten hat großen Einfluss darauf, welche Tests in der Labordiagnostik relevant sind: „Während man bei Kindern und jungen Erwachsenen primär Basis-Labortests, Allergiediagnostik und punktuell mikrobiologische Tests durchführt, rücken bei Ü65-Patienten die Hämatologie, Proteindiagnostik, Medikamentenspiegel und Autoantikörper-Tests in den Vordergrund.“ Auch die Prävention wird wichtiger, etwa durch Bestimmung der Glukose- und Lipidwerte zur Diabetesvorsorge oder ein Screening auf bösartige Erkrankungen. Der PSA-Wert kann einen Hinweis auf ein Prostatakarzinom geben. Die Referenzwerte sind jedoch deutlich altersabhängig und würden bei fehlerhafter Berücksichtigung auch eine entsprechend inadäquate Therapie nach sich ziehen können.
Geringer Einsatz, großer Nutzen
Den Vorsprung, den die Labordiagnostik bei der Erkennung von Demenzerkrankungen hat, kann die Klinik schon in wenigen Jahren aufgeholt haben und eine wirksame Therapie anbieten
Kai Gutensohn
„Der Stellenwert des Labors in der Altersmedizin kann nicht hoch genug sein, denn sie trägt mit facettenreichem Input dazu bei, die Erkrankungen des Patientenkollektivs Ü65 abzuklären und ermöglicht so eine geordnete Therapie“, merkt Gutensohn an. Vergleichsweise simple Labortests sorgen dafür, dass eine Diabeteserkrankung diagnostiziert wird, die ansonsten inapparent verlaufen wäre und so unbemerkt schwere gesundheitliche Schäden angerichtet hätte. Davon profitiert auch das deutsche Gesundheitssystem, betont Gutensohn: „Die Labordiagnostik ist ein wesentliches Fundament. Sie macht mit etwa 8,5 Milliarden Euro nur 2,5% der allgemeinen jährlichen Ausgaben aus, beeinflusst jedoch 60-70% aller diagnostischen und therapeutischen Fälle.“ Da ein Großteil der Ressourcen im Gesundheitswesen für ältere Menschen aufgewendet wird, sollten die diagnostischen und therapeutischen Optionen nach Ansicht des Experten deutlich besser auf diese Bevölkerungsgruppe abgestimmt werden.
Doch was bringt die Früherkennung von Erkrankungen, die nicht geheilt werden können – zum Beispiel Alzheimer? Selbst in diesen Fällen sieht Prof. Gutensohn einen Nutzen für die Patienten: „Den Vorsprung, den die Labordiagnostik bei der Erkennung von Demenzerkrankungen hat, kann die Klinik schon in wenigen Jahren aufgeholt haben und eine wirksame Therapie anbieten.“ Diesen Fortschritt – angetrieben unter anderem durch moderne Hochdurchsatz-Verfahren, multiparametrische Untersuchungen und Big-Data-gestützte Algorithmen – sollte man nicht unterschätzen, so der Experte. Darüber hinaus können Patienten mit als unheilbar geltenden Krankheiten inzwischen so therapiert werden, dass ihnen gegebenenfalls viele beschwerdefreie Jahre geschenkt werden. Frühzeitige Diagnostik bedeutet einen Zuwachs an Lebensqualität. Gutensohn: „Ein gutes Beispiel dafür ist die Anämie, die häufigste Labordiagnose bei älteren Menschen. Wird sie im Frühstadium erkannt, kann man schon mit einfachen Maßnahmen wie der Gabe von Eisen- oder Vitaminpräparaten wirksam gegensteuern und dem Patienten ein langes Leben in Autonomie und Autarkie ermöglichen.“
Profil:
Prof. Dr. med. Kai Gutensohn ist Geschäftsführer und Ärztlicher Leiter des aesculabor Hamburg und Managing Director der Laborgruppe Nord der amedes GmbH. Der Gesundheitsökonom ist Professor an der Medizinischen Fakultät der Universität Hamburg. Er ist unter anderem ehrenamtlich in der „Krankenhaus-Kommunikations-Centrum“ (KKC) Gesellschaft zur Förderung interdisziplinärer Zusammenarbeit in Einrichtungen des Gesundheitswesens tätig. Prof. Gutensohn ist Mitglied zahlreicher medizinischer Gesellschaften und Verbände, darunter der Berufsverband Deutscher Labormediziner (BDL), die Gesellschaft für Hämostase- und Thromboseforschung (GTH), die Deutsche Gesellschaft für Klinische Chemie und Laboratoriumsmedizin (DGKL) und die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO).
23.04.2019