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Artikel • Experten ziehen Zwischenbilanz

Frauengesundheit: Da geht noch was

In der Theorie sind alle Patienten gleich, doch eine männlich geprägte Medizintradition sorgt bis heute dafür, dass sich viele Frauen als Personen zweiter Klasse fühlen: nicht ernst genommen, fehldiagnostiziert und gesundheitspolitisch abgehängt. 35 Jahre nach dem ersten internationalen Tag der Frauengesundheit diskutierten Experten auf einer von Hologic ausgerichteten Pressekonferenz, wie sich das Geschlechtergefälle im Gesundheitswesen begradigen lässt und welche Rolle weibliche Daten dabei spielen.

Bericht: Wolfgang Behrends

„Viele Frauen bemängeln, dass sie mit ihren Sorgen, Ängsten und Beschwerden nicht ernst genommen werden“, wusste Vera Cordes zu berichten. Die Moderatorin des NDR-Gesundheitsmagazins ‚Visite‘ untermauerte dies mit zahlreichen Zuschriften ihrer Zuschauerinnen: Unter der Mutmaßung, die Ursache liege sicherlich in der Psyche der Patientin, würden zum Teil haarsträubende Fehldiagnosen gestellt, etwa bei Herzinfarkten

Es sei längst kein Geheimwissen mehr, dass sich manche Erkrankungen bei Frauen gänzlich anders bemerkbar machen als bei Männern, konstatierte Cordes. „Trotzdem bleiben Symptome, die speziell bei Frauen auftreten, im medizinischen Alltag oft unbeachtet.“

Präventions- und Beratungsangebote sind ausbaufähig

portrait of Saskia Weishaupt
Saskia Weishaupt

Credit: Grüne im Bundestag, S. Kaminski (CC BY-ND 3.0 DE)

„Der Umgang mit der Gesundheit von Frauen darf nicht als Kostenfaktor oder als ‚nice to have‘ gesehen werden, sondern als Investition in die Gesellschaft“, appellierte Saskia Weishaupt (Grüne). Frauengesundheit sei daher untrennbar mit Frauenrecht verknüpft, so die Politikerin, die seit September 2021 als Abgeordnete im Bundestag ist und sich das Thema auf die Fahne geschrieben hat. Sie attestierte Deutschland dabei einigen Nachholbedarf, etwa bei der Kostenübernahme von Verhütungsmitteln für finanziell schwache Frauen durch die gesetzlichen Krankenkassen. Auch eine nationale Strategie gegen Endometriose wie in Frankreich fehlt hierzulande – dabei handele es sich um eine häufige frauenspezifische Erkrankung mit schweren Einschnitten in die Lebensqualität der Betroffenen. Vorbildfunktion habe zudem das in Spanien neu geschaffene Recht auf Abtreibung; dort müssen Kliniken Schwangerschaftsabbrüche nun kostenfrei anbieten. 

„Es gibt noch viel zu tun“, bemerkte Weishaupt. Das betreffe sowohl die Ausgestaltung gendersensibler Themen in den Curricula des Medizinstudiums, die Diversifizierung der Forschung, als auch eine qualifizierte Betreuung. Es könne nicht sein, dass es jedem gestattet sei, nicht verifizierte Informationen über Schwangerschaftsabbrüche ins Internet zu stellen, Ärzte dort jedoch nicht auf eigene Aufklärungsangebote hinweisen dürften. „Wenn wir für Frauenrechte kämpfen, gehört dazu auch eine angemessene Gesundheitsversorgung.“

Wenn Frauen wie Männer behandelt werden

portrait of Christina Schües
Prof. Dr. Christina Schües

Bildquelle: Hologic

Die Wurzeln der systematischen Ungleichbehandlung von Frauen in der Medizin verortete anschließend Prof. Dr. Christina Schües. Vor 2500 Jahren erklärte Aristoteles den männlichen Körper zum Standard und Frauen zur ‚verunglückten‘ Abweichung von dieser Norm – eine Perspektive, die sich erstaunlich hartnäckig gehalten habe, so die Expertin für Medizingeschichte und -philosophie. Frühe anatomische Studien einflussreicher Künstler wie Leonardo da Vinci und Michelangelo folgten diesem Ansatz ebenso wie die ersten Medizinlehrbücher des 16. Jahrhunderts, so dass noch heute schematische Darstellungen zuallererst den männlichen Körper zeigen. Frauen seien dagegen vor allem im Kontext psychiatrischer Leider wie Hysterie aufgetreten – mit fragwürdigen Diagnosen und noch abenteuerlicheren Therapieansätzen. 

Dieses Gefälle sei jedoch keineswegs rein philosophischer Natur, sondern habe bis in die Gegenwart sehr konkrete Nachteile für Frauen zur Folge, betonte Schües: Da Rettungssanitäter die Herzdruckmassage ausschließlich an männlichen Puppen üben, gebe es häufig Berührungsängste bei weiblichen Patienten. „Diese Unsicherheit führt dazu, dass Frauen nach einem Unfall auf der Straße weniger schnell gerettet werden.“ 

Analog zum ‚Gender Pay Gap‘ attestierte sie einen ‚Gender Data Gap‘; eine gravierende Unterrepräsentation von Frauen in medizinischen Datenbanken, die zu einer schlechteren Versorgung von Frauen führe. Selbst Tierversuche zur Erprobung von Wirkstoffen würden fast ausschließlich an männlichen Mäusen durchgeführt, erklärte Saskia Weishaupt. Frauenspezifische Unterschiede, etwa hinsichtlich des Stoffwechsels, blieben dabei auf der Strecke. „Die Medizin braucht ein Wissen jenseits des Allgemeinen“, brachte Prof. Schües den Wert der Daten-Diversifizierung auf den Punkt und forderte einen entsprechenden Wandel der Wissenskultur.

Der Nervenarzt Jean-Martin Charcot führt 1887 seine hysterische...
Der Nervenarzt Jean-Martin Charcot führt 1887 seine hysterische Paradepatientin Blance-Wittman vor.

Bildquelle: A. Lurat nach P.A.A. Brouillet (via Wellcome Collection; CC BY 4.0)

Global Women’s Health Index: Gesundheitsversorgung mit den Augen der Frauen sehen

„Wenn Daten verfügbar sind, werden sie auch in Aktionen umgesetzt“, pflichtete Wouter Peperstraete dem Appell seiner Vorrednerinnen bei. Er ist Generalmanager der DACH-Region bei Hologic und stellte in diesem Zusammenhang den ‚Global Women’s Health Index‘ (GWHI) des Unternehmens vor,1 der dazu beitragen soll, die weibliche Datenlücke zu füllen. Beim GWHI handele es sich ausdrücklich nicht um eine weitere Statistik, sondern eine jährliche repräsentative Befragung von ca. 60.000 Frauen aus 116 Ländern zur subjektiven Wahrnehmung der Gesundheitsversorgung. „Sehr oft wird die Perspektive der Frauen nicht mitgenommen. Das wollen wir ändern.“ 

Auch in Deutschland habe die im vergangenen Jahr erstmal durchgeführte Befragung Raum für Verbesserung offengelegt: „Die Prävention wird im deutschen Gesundheitssystem wie ein Stiefkind behandelt“, so Peperstraete. Vorsorgeangebote seien zwar vorhanden, seien aber öffentlich nicht sichtbar genug und würden hinsichtlich ihres Nutzens nicht überzeugend präsentiert. In der Folge nahmen 2019 nur 43% der Frauen die Vorsorgetermine gegen Brust- und Gebärmutterhalskrebs wahr. „Dabei ist der Konsens, dass Früherkennungsangebote wie Screenings gegen Krebs die beste Methode sind, um Leben zu retten.“ Manche Krebsarten seien sogar zu 100% vermeidbar, wenn sie per Screening echtzeitig entdeckt werden.

Infarktdiagnostik: Bei Frauen zählt nicht immer ‚Hand aufs Herz‘

Frauentypische Krankheitsbilder sind viel zu wenig untersucht, ebenso wie die geschlechtsspezifischen Auswirkungen von Stress, Hormonen, Schwangerschaft oder Rheuma

Vera Regitz-Zagrosek

Wie groß die Kluft zwischen Männern und Frauen in der klinischen Realität sein kann, machte anschließend Prof. Dr. Vera Regitz-Zagrosek am Beispiel Herzinfarkt deutlich. „Wenn ein Mann sich vor Schmerzen an die linke Brust fasst, liegt er innerhalb kürzester Zeit im Rettungswagen und anschließend auf dem Tisch eines Kardiologen. Eine Frau mit Schmerzen in der Brust und Übelkeit dagegen wird wahrscheinlich erst Tage später zum Hausarzt gehen.“ Und selbst dann sei bei vielen Medizinern das Wissen um die unterschiedlichen Ursachen und Symptome von Herzinfarkten bei Frauen nicht vorhanden, so dass oft keine Behandlung stattfinde, konstatierte die Internistin und Kardiologin an der Charité – Universitätsmedizin Berlin sowie der Universität Zürich. In der Folge liege die Fallsterblichkeit bei Frauen deutlich höher.

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Artikel • Gendermedizin

„Frauen müssen stärker in Studien und Leitlinien einbezogen werden“

Frauen und Männer sind unterschiedlich. Kaum jemand wird diese Aussage anzweifeln, dennoch spielt das Geschlecht in der Medizin eine untergeordnete Rolle. Weder in der Forschung noch in der Prävention noch in der Therapie wird dieser Unterschied angemessen berücksichtigt. „Das ist nicht länger akzeptabel“, findet Prof. Dr. Vera Regitz-Zagrosek.

Ein Kernproblem sei auch hier die ungleiche Datenlage, so dass sämtliche Leitlinien zu Diagnostik und Therapieempfehlungen auf Männer ausgerichtet seien. „Frauentypische Krankheitsbilder sind viel zu wenig untersucht, ebenso wie die geschlechtsspezifischen Auswirkungen von Stress, Hormonen, Schwangerschaft oder Rheuma.“ Auch bei der Metabolisierung von Medikamenten gebe es bei Frauen bisweilen große Unterschiede, und oft bekämen Patientinnen die auf den männlichen Stoffwechsel zugeschnittene Dosis verabreicht – auch wenn bei ihnen eine viel geringere Menge ausgereichen würde. Und obwohl belegt ist, dass etwa geschlechtergemischte Chirurgenteams zu besseren Behandlungserfolgen führen – insbesondere bei weiblichen Patienten –, machen Frauen nach wie vor einen deutlich geringeren Teil der Fach- und Führungspositionen an Kliniken aus.

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Hysterektomie: Nicht immer schlecht – aber nicht immer nötig

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Prof. Dr. Sven Becker

Bildquelle: Universitätsklinikum Frankfurt

„Die Frauengesundheitsversorgung in Deutschland ist durchaus erstklassig“, befand Prof. Dr. Sven Becker. „Aber wir müssen uns auch immer die Frage stellen, ob sie so gut ist, wie sie sein könnte“, gab der Direktor der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe an der Universitätsklinik Frankfurt zu bedenken. Und am Beispiel der Hysterektomie zeige sich leider, dass dies nicht der Fall ist. Die Entfernung der Gebärmutter sei nach dem Kaiserschnitt eine der häufigsten OPs bei Frauen – dabei werde sie in mehr als 80% der Fälle aufgrund gutartiger Erkrankungen wie Myomen oder Blutungsstörungen veranlasst, sei also nicht zwingend notwendig. 

Angesichts der teils schweren Risiken und Nebenwirkungen eines solchen Eingriffs halte er die Häufigkeit von Hysterektomien auch bei relativer Indikation für eine systemimmanente Schwachstelle in der Gesundheitsversorgung bei Frauen. „Die Entfernung der Gebärmutter ist nicht trivial“, betonte der Experte: Aktuelle Daten zeigen erhöhte Risiken für Bluthochdruck, Diabetes, Übergewicht, diverse Herzerkrankungen bis hin zum Schlaganfall bei Frauen, die sich einer Hysterektomie unterzogen haben.2 Andererseits dürfe der Eingriff nicht per se verteufelt werden, denn bei einer malignen Krebserkrankung könne er lebensrettend sein. Für Frauen ohne Krebs gebe es jedoch mittlerweile viele ausgereifte Alternativen, von der Hormontherapie über die Endometriumablation bis hin zu Hochfrequenz-Ultraschall-Verfahren, die Beschwerden ebenso wirksam bekämpfen, jedoch weit weniger invasiv und risikoreich seien.

Entscheidend sei es, Patientinnen umfassend über die Therapiemöglichkeiten zu informieren, so dass jede Frau die für sie richtige Entscheidung treffen könne, so Prof. Becker abschließend: „Bei der Frauengesundheit geht es vor allem darum, dass Frauen dieselben Optionen haben wie Männer, und in den Bereichen, wo sie anders sind, eben auch andere Therapieoptionen erhalten.“ 


Quellen: 

1 Hologic Global Women's Health Index (GWHI)

2 Madueke-Laveaux et al.: What We Know about the Long-Term Risks of Hysterectomy for Benign Indication—A Systematic Review; Journal of Clinical Medicine 2021; https://doi.org/10.3390%2Fjcm10225335

20.07.2022

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