Artikel • Anwendungsbeispiele, Szenarien und Erfolgsfaktoren
Erfolgreicher Einsatz medizinischer KI
Künstliche Intelligenz (KI) ist inzwischen routinefähig, so das Statement von Dr. Cord Spreckelsen, Professor am Institut für Medizinische Statistik, Informatik und Datenwissenschaften am Universitätsklinikum Jena. Zusammen mit Helmut Schlegel vom Bundesverband der Krankenhaus-IT-Leiterinnen und -Leiter zeichnete er für eine DMEA-Session zu KI verantwortlich.
Bericht: Michael Reiter
Sichtbar wird die zunehmende Akzeptanz laut Dr. Spreckelsen unter anderem dadurch, dass die US-Zulassungsbehörde FDA in einer hohen Frequenz KI-Anwendungen zur Nutzung freigibt. Nach wie vor hängt jedoch die Latte für die KI-Einführung hoch – insbesondere durch die Zulassungsvorgaben als Medizinprodukt, die Integration in die hauseigene System- und Workflow-Landschaft und durch die Anforderungen an den Datenschutz. Ziel dieser Session war es, KI-Anwendungen in der Praxis zu präsentieren. Die Palette umfasste die Eingabe natürlicher Sprache bei der Arzt-Computer-Interaktion, ein KI-gestütztes Meldesystem für Laborbefunde, Deep Learning zur Prävention von Sepsis und Delir sowie die Integration von KI-Anwendungen in eine klinische IT-Infrastruktur.
Strukturierte Daten aus Spracheingabe mit „Speech2Structure“
Mit „Conversational AI“ optimiert das auf Textmining spezialisierte Unternehmen Averbis die Arzt-Computer-Interaktion. Grundlage seien Spracherkennung und Textmining durch Natural Language Processing (NLP), erläuterte Geschäftsführer Dr. Philipp Daumke. Klinikkunden des Unternehmens, das sich auch in der Medizininformatikinitiative engagiert, sind die Universitätskliniken Freiburg, Erlangen und Mainz; zu den Partnern auf Industrieseite zählen unter anderem Cerner und CompuGroup.
Sowohl das Strukturieren als auch die Analyse von Patientendaten sei essenziell für die medizinische Forschung, etwa für die Optimierung klinischer Studien, auch bei der Patientenrekrutierung, sagte Daumke. In Patientenakten stecke enorm viel Aussagekraft; „Analyseintelligenz“ sei beim Extrahieren von Wissen ausschlaggebend. Auf einer solchen Basis lasse sich Entscheidungsunterstützung für die klinische Praxis entwickeln – „richtige Information zur richtigen Zeit am richtigen Ort“, die helfe, Fehler zu vermeiden.
Speech2Structure führt die Faktenextraktion mithilfe von NLP durch, etwa beim Lungenadenokarzinom. Das integrierte Machine Learning erlaube dank Training mit validierten Fällen Vorhersagen etwa für die onkologische Therapie sowie die Übermittlung an deutsche und internationale Krebsregister. Boolesche Operatoren unterstützen algorithmisch die Suche nach geeigneten Patienten für Studien, erläuterte Daumke. Datenmodelle mit FHIR, Kataloge und Terminologien wie ICD-10 sowie SNOMED, OPS, RadLex und LOINC kommen dabei zum Einsatz. Am Beispiel von Standardarztbriefen demonstrierte Daumke, wie die Analysen funktionieren, die unter anderem Familienanamnesen, Diagnosen und Laborwerte einbeziehen.
Die Kombination „on the fly“ von NLP und Spracherkennung ermögliche den Übergang zu mehr Strukturierung von Informationen in der klinischen Routine, so Daumke. Dazu zählen Arztbriefe, Radiologie- und Pathologiebefunde sowie Funktionsuntersuchungen. Averbis setze State-of-the-Art-Spracherkennung mit hoher Erkennungsrate ein, etwa von Google, Mediainterface oder Nuance. Menschen würden künftig nicht mehr tippen, sondern mit Maschinen sprechen wollen, zeigte sich Daumke überzeugt. Denn dies bedeute für die Krankenhäuser nicht nur weniger Aufwand, sondern auch mehr Sicherheit.
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Artikel • Personalisierte Medizin
Virtuelle Assistenten und Digitale Zwillinge für den klinischen Alltag
Siri und Alexa machen es vor – die Sprachassistenten erfüllen im Alltag so manchen Wunsch. Nun soll eine ähnlich programmierte Software auch in der Medizin Einzug halten. Und auch der digitale Patientenzwilling soll künftig in der Sprechstunde vorstellig werden – zwei informationstechnische Anwendungen, die auf Künstlicher Intelligenz (KI) basieren.
Aufmerksamkeit für kritische Laborbefunde
Medizinische Fehler seien eine relevante Todesursache, erklärte PD Dr. Thorsten Kaiser, Leitender Oberarzt der Laboratoriumsmedizin, Klinische Chemie und Molekulare Diagnostik (ILM) am Universitätsklinikum Leipzig. Abgesehen von dem Schaden für Patienten führten sie allein in den USA zu rund 19,5 Milliarden USD an zusätzlichen Kosten. AMPEL, das Analyse- und Meldesystem zur Verbesserung der Patientensicherheit durch Echtzeit-Integration von Laborbefunden, soll helfen, diese Situation zu verbessern. Gefördert wird das Projekt über eHEALTH-SAX.
Für Kaiser ist die Vermeidung medizinischer Fehler eine Herzensangelegenheit; den Schlüssel zum Erfolg sieht er im sicheren Zugriff auf Laborinformationen. Die Verantwortung der Labormedizin sei groß, denn etwa 70 Prozent der therapeutischen Entscheidungen würden auf Basis von Laborbefunden gefällt. In der labormedizinischen Diagnostik und bei den medizinischen Konsequenzen, die aus ihr gezogen werden, passieren laut dem Labormediziner die meisten Fehler: in der Präanalytik – wobei hier eine hochgradige Automatisierung unterstützend wirke – und in der komplexen Postanalytik. Und hier kommt AMPEL ins Spiel.
Ziel des Systems ist die Alarmierung und Sicherstellung der notwendigen medizinischen Konsequenz, die Erhöhung der Qualität in der labormedizinischen Diagnostik, die regelbasierte Überprüfung und Verbesserung der Kodier- und Dokumentationsqualität sowie die Integration der Lösung in vorhandene Labor- und Krankenhausinformationssysteme. Parallel zur Behandlung generiert das System Verdachtsdiagnosen, es überwacht die Therapie und gibt Hinweise an Labormediziner und Behandler auf nicht schlüssige klinische Konsequenzen. Auch die Vollständigkeit der Dokumentation für administrative und klinische Zwecke wird unterstützt. In Regelwerken, die im Rahmen des Projekts entwickelt wurden, werden kritische Befundkonstellationen festgelegt, für die AMPEL einen Alarm sendet. Overalarming, ein Zuviel an Warnmeldungen, wird laut Kaiser vermieden.
Das Konzept des Data Warehouse spielt in diesem System laut Jörg Michael Trelle, Vorstand des technischen Umsetzungspartners Xantas, eine zentrale Rolle. AMPEL ist integriert in den klinischen Arbeitsplatz SAP IS-H. Die Akzeptanz für das System sei sehr hoch, so Kaiser, denn die positiven Effekte für Patienten seien ebenso dokumentiert wie die Erlösrelevanz. Im Fokus, so der Labormediziner, stünden zugleich Patient und Wissenschaft.
Anstelle von Black-Box-KI sorge die nachvollziehbare Entscheidungsmatrix RUS-boosted RandomForest bei beiden Zielgruppen für Akzeptanz. Ein gutes Beispiel für den Einsatz des maschinellen Lernens sei die Sepsis; es liefert laut Kaiser eine hervorragende Qualität bei der Prädiktion. Um das maschinelle Lernen fortzuschreiben, brauche es zum einen die fallbegleitende Dokumentation sowie eine enge Zusammenarbeit zwischen Klinikern und Softwareanbietern. Diese Kooperation bringe den Erfolg.
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News • Transparente Algorithmen
Wie 'denkt' eine KI? Forscher blicken in die 'Black Box'
Selbstlernende Computeralgorithmen treffen Entscheidungen, die je nach Einsatzgebiet massive Auswirkungen haben können. Wie die Algorithmen der Künstlichen Intelligenz (KI) ihre Eingabedaten intern repräsentieren und verarbeiten, ist jedoch noch weitgehend unbekannt. Forschende haben sich des „Black-Box Problems“ angenommen und ein Verfahren entwickelt, das die Prozesse sichtbar macht.
KI – in die Routineabläufe integriert
Unerwünschte Ereignisse vorhersagen: Mit Clinalytix will der KIS-Anbieter Dedalus Healthcare die Prävention von Sepsis, Delir und Nierenversagen (AKI) unterstützen. Die Integration in den Workflow und in das KIS sieht Ralph Szymanowsky, Leiter Business Development bei Dedalus Healthcare als Schlüssel zum Erfolg. Clinalytix erkennt neue Daten, Befunde und Arztbriefe – und leitet sie via ORBIS an den „Prediction Service“. Das System stellt fest, ob eine Alarmmeldung angemessen ist. Der Datenfluss zwischen ORBIS und dem Clinalytix-Server geschieht über die Standards JSON und FHIR. Bei den Meldungen werden Quellen gewichtet dargestellt. Nachrichten lassen sich bei Bedarf deaktivieren und ermöglichen Feedback – zur Vermeidung von Alert Fatigue, so Szymanowsky.
Die Vorhersagemodelle werden halbautomatisch trainiert und liefern auch umfassende Evaluierungsberichte. Die Ergebnisse (momentan bei Entlassung) sind laut dem Dedalus-Manager vielversprechend, die Umsetzung der Algorithmen im Behandlungsverlauf derzeit noch in Arbeit.
Sensitivität vor Spezifität?
Laut Szymanowsky sollen mit Blick auf die zunehmende Arbeitsbelastung bei Medizinern in der Routine vor allem falsch-positive Ergebnisse vermieden werden. Ins System eingespeist werden unstrukturierte Daten aus dem KIS und LIS, aber auch Befunde in Form unstrukturierter Dokumente. Szymanowsky betonte, dass Diagnosen Kodierrichtlinien folgten und damit die Objektivität von Diagnosen eingeschränkt sei. Ferner müssten komplexe Zusammenhänge wie die Biorhythmus-Zeitpunkte beim Blutzucker in die Modelle einfließen, damit die Analysen an Aussagekraft gewännen. Damit der Datenschutz nicht zum Showstopper wird, müssten Unternehmen früh in solche Entwicklungen eingebunden werden. Wichtig ist laut Szymanowsky auch, dass die Krankenhausorganisation einbezogen wird, um die gewonnenen Infos für die Früherkennung zu nutzen, etwa durch Einrichtung von Interventionsteams. Als Ziel sieht der Dedalus-Mitarbeiter „Federated learning“: Datenmodelle werden kombiniert, indem Wissen aus verschiedenen Standorten aggregiert werde anstelle reiner Daten. Das helfe, besser mit dem Datenschutz umgehen zu können.
KI: in Anwendung … aber mit Herausforderungen
Zu den zentralen Themen der Session zählte auch die Nutzbarkeit des Kerndatensatzes der Medizininformatikinitiative für KI. Die Heterogenität der Daten wurde dabei als größte Herausforderung identifiziert. Der Aufwand für eine Harmonisierung von Katalogen wäre enorm, so die Teilnehmer. Diskutiert wurde in diesem Kontext die Frage, ob der Gesetzgeber Druck ausüben sollte, um eine Vereinheitlichung zu erreichen und der Vielfalt von Terminologien und Ontologien ein Ende zu setzen. LOINC sei nicht der Heilsbringer-Standard – seine Vielfalt produziere ein kontraproduktives „Rauschen“, so eine Feststellung – beispielsweise seien mehrere LOINC-Codes für ein und denselben Parameter nutzbar. Das Übertragen dieser parallelen Standards, das so genannte Mappen, erfordere viel Sachverstand und bereite großen Aufwand. Entwickler sollten statt auf Terminologien daher besser auf Komponenten und Systeme setzen, so die Schlussfolgerung aus der Diskussion.
Der Umgang mit der Zulassung von KI-Lösungen als Medizinprodukte sei ein komplexes Thema, da sich diese im Rahmen dynamischer Anforderungen in ständiger Weiterentwicklung befinden. Bei Forschungsprojekten, so der Tenor in der DMEA-Session, sei das handhabbar – für kommerzielle Produkte hingegen jedoch äußerst schwierig. Die Session endete mit der Feststellung, dass medizinische KI wohl auf absehbare Zeit ein ‚Work in Progress‘ bleibe.
02.07.2021