Konzept eines digitalen Patientenmodells
Konzept eines digitalen Patientenmodells

Artikel • Personalisierte Medizin

Virtuelle Assistenten und Digitale Zwillinge für den klinischen Alltag

Siri und Alexa machen es vor – die Sprachassistenten erfüllen im Alltag so manchen Wunsch. Nun soll eine ähnlich programmierte Software auch in der Medizin Einzug halten. Und auch der digitale Patientenzwilling soll künftig in der Sprechstunde vorstellig werden – zwei informationstechnische Anwendungen, die auf Künstlicher Intelligenz (KI) basieren.

Bericht: Katrin Schreiter

Medizinische Sprachassistenten und digitale Patientenzwillingen sind zwei Schwerpunkte des Forschungsprojekts „Modelle für die personalisierte Medizin“. Damit wollen Wissenschaftler des Innovationszentrums für Computerassistierte Chirurgie (ICCAS) der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig die Behandlung onkologischer Patienten verbessern. Das Projekt mit einer Gesamtförderung von rund 5,1 Millionen Euro wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert und mit Unterstützung von sächsischen Unternehmen realisiert.

portrait of Thomas Neumuth
Prof. Thomas Neumuth ist technischer Direktor des Innovation Center Computer Assisted Surgery (ICCAS) in Leipzig

In mehreren Pilotanwendungen werden verschiedene Technologien entworfen: „Ziel ist es, die medizinische Behandlung von Krebspatienten mit Hilfe von Informationstechnologien zu unterstützen“, sagt Projektleiter Prof. Dr. Thomas Neumuth vom ICCAS. Dabei handele es sich zum Beispiel um Patienten, die an Tumoren im Kopf- und Halsbereich leiden.

Die informationstechnische Unterstützung beginnt bei der Besprechung der interdisziplinären Experten am Tumorboard. Daran nehmen Vertreter verschiedener Disziplinen teil: Chirurgen, Radiologen, Strahlentherapeuten oder Pathologen. „Die Experten der verschiedenen medizinischen Fachrichtungen diskutieren den medizinischen Zustand des jeweiligen Patienten“, erklärt Neumuth. „Eine Art Briefing, bei dem sämtliche entscheidungsrelevante Informationen ausgewertet werden. Darauf basierend diskutieren die Experten die Behandlungsmöglichkeiten und treffen eine gemeinsame Entscheidung.“

Der Sprachassistent soll zukünftig die Besprechung begleiten. „So gehen keine Informationen verloren“, sagt Neumuth. Eine Herausforderung bei der Programmierung sei zurzeit allerdings noch, dass die unterschiedliche Lautstärke und die verschiedenen Positionen der Sprecher im Raum erkannt und ausgeglichen werden müsse. „Auch eine undeutliche Aussprache oder ein starker Akzent dürfen kein Problem bei der Worterkennung sein.“ Im Unterschied zu einer herkömmlichen Software müsse die Spracherkennung, die im medizinischen Bereich zum Einsatz kommt, auf die Fachsprache und deren Terminologie abgestimmt sein und natürlich unter höchsten Vertraulichkeitsanforderungen arbeiten.

Auftritt: Der digitale Zwilling

Eine weitere Vision der Leipziger Wissenschaftler ist der sogenannte digitale Zwilling – eine geordnete Sammlung aller Informationen über den Patienten und seine Krankengeschichte: radiologische Bilder, Informationen über Vorerkrankungen und Operationen sowie molekulargenetischen Daten. „Das ist viel komplexer als die elektronische Patientenakte, die ja bereits existiert“, sagt Neumuth.

Die endgültige Entscheidung über die Behandlung wird selbstverständlich weiterhin gemeinsam von den Patienten und Ärzten getroffen

Thomas Neumuth

Die Daten in der Patientenakte seien bisher noch nicht entsprechend ihrer Bedeutung miteinander verknüpft, sodass beispielsweise patientenindividuelle Analysen noch nicht vollumfänglich durch eine KI unterstützt werden können. Mit dem digitalen Zwilling beschreite man „den Übergang von der analogen in die digitale Welt“, so der Experte. Dabei gehe es auch darum, Behandlungsschritte zu speichern, Möglichkeiten durchzuspielen und Informationen fortzuschreiben, erklärt der Projektleiter, der auch stellvertretender Direktor des ICCAS ist. Das objektiviere die medizinische Arbeit, mache sie allen Experten im Team gleichermaßen zugänglich und ermögliche eine verbesserte Vorhersage der Effektivität von Behandlungsschritten.

Während der Diagnostik und Therapie werden also die Informationen dieses Datenzwillings mit digitalen Modellen des Krankheitsbildes verglichen, die mit den relevanten Studien und neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen optimiert wurden. So soll zukünftig der Computer die Ärzte bei personalisierten Therapieempfehlungen für Krebspatienten unterstützen. „Dabei wird die endgültige Entscheidung über die Behandlung selbstverständlich weiterhin gemeinsam von den Patienten und Ärzten getroffen“, sagt Neumuth.

Außerdem soll ein Patientendaten-Explorer die verschiedenen Daten des Patienten aus radiologischen Bildern und Befundtexten über Webtechnologien verknüpfen, die  molekulargenetische Tumorinformationen in die Entscheidungsfindung integrieren bzw. die patientenspezifische Therapieprofile für chirurgische Eingriffe und Radio-Chemo-Therapien berechnen. „Dabei sollen verschiedenste Informationen des digitalen Zwillings direkt miteinander verknüpft und durch eine künstliche Intelligenz analysiert werden“, erläutert Neumuth.

Um diese und andere Technologien im Bereich der personalisierten Krebsmedizin direkt in den klinischen Alltag zu integrieren, müsse noch viel entwickelt und getestet werden. „Das dauert noch drei bis fünf Jahre", schätzt der Projektleiter. Ziel sei es, die wissenschaftliche und methodische Grundlage für zukünftige personalisierte und durch künstliche Intelligenz unterstützte Krebsbehandlungen zu schaffen.  Für den Patienten bedeutet das künftig im Idealfall: Eine individuell auf ihn zugeschnittene Therapie nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen, die seine Situation und seine persönlichen Bedürfnisse berücksichtigt und ihm gleichzeitig transparent und verständlich erklärt wird.


Profil:

Prof. Thomas Neumuth ist Ingenieur und Informatiker. Seine Forschungsthemen konzentrieren sich auf die Bereiche modellbasierte Medizin, intelligente biomedizinische Technologie und medizinische Informationssysteme. Der gebürtige Leipziger ist technischer Direktor des Innovation Center Computer Assisted Surgery (ICCAS); er leitet den ICCAS-Forschungsbereich der modellbasierten Medizin. Seine Arbeit für intelligente Medizintechniksysteme wurde auf dem Digital Summit 2017 als Referenzprojekt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung ausgewählt und demonstriert die Etablierung von ICCAS als eines der führenden Forschungszentren in Deutschland.

21.07.2020

Verwandte Artikel

Photo

News • Flexible und sichere Zulassungsbe­dingungen gefordert

KI in der personalisierten Krebsmedizin: „Grundlegender Wandel erforderlich“

KI-Unterstützung verspricht personalisierte Therapien bei Krebs. Starre Zulassungsbedingungen verlangsamen jedoch die Einführung, bemängeln Experten – und zeigen, wie es anders gehen könnte.

Photo

News • Onkologie & IT

Daten aus Krebsregistern für die Nutzenbewertung nutzbar machen

Aktuell sind die klinischen Krebsregister noch nicht als primäre Datenquelle für die anwendungsbegleitende Datenerhebung geeignet. IQWiG-Autoren erklären, was dafür erforderlich wäre.

Photo

News • Studie zeigt Grenzen von LLM auf

KI in der Krebstherapie: Menschen treffen die besseren Entscheidungen

Berliner Forscher haben untersucht, ob generative Künstliche Intelligenz (KI), wie sie etwa bei ChatGPT zum Einsatz kommt, bei der personalisierten Behandlung von Krebs helfen kann.

Verwandte Produkte

Newsletter abonnieren