Künstliche Intelligenzen eröffnen viele neue Diagnostik- und...
Künstliche Intelligenzen eröffnen viele neue Diagnostik- und Behandlungsmethoden in der Medizin.

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Interview • Diagnostik & Therapie

KI in der Medizin – heute Hype und Hoffnung, morgen Realität

Kaum ein Tag vergeht, an dem Mediziner, Forscher oder Unternehmen nicht über ein KI-System berichten, das potenziell bösartige Läsionen, gefährliche Herzmuster identifizieren oder Therapien personalisieren kann. „Wir sind derzeit zu fokussiert auf das Thema“, bemängelt Prof. Dr. Christian Johner, Inhaber und Gründer des Johner Instituts für IT im Gesundheitswesen. Zugleich sieht er großes Potenzial in der Technik. Doch um dieses zu nutzen, müssen noch einige Herausforderungen gemeistert und Rahmenbedingungen geschaffen werden.

Herr Prof. Johner, welche Verfahren der Künstlichen Intelligenz kommen derzeit in der Medizin zum Einsatz?

Am bekanntesten sind Machine Learning-Verfahren, die Muster in vorliegenden Datenbeständen aufspüren und so selbstständig Lösungen für Probleme finden. Zu ihnen gehört Deep Learning, dass sich neuronale Netzwerke zunutze macht und z.B. in der Bildgebung zum Einsatz kommt. In der letzten Zeit haben aber vor allem Boosting-Verfahren wie XGBoost stark zugenommen, die ebenfalls zu den Machine Learning-Verfahren zählen.

KI wird außerdem bei der Erkennung von Depression eingesetzt, wobei Sprache und Bewegungsmuster analysiert werden. Weitere Einsatzfelder sind die Herstellung, Auswahl und Dosierung von Medikamenten, die Fehlersuche in Patientenakten sowie die Signalerkennung beim EKG zur Identifikation von Arrhythmien. Dies sind diagnostische Anwendungen, die bereits zugelassen und auf dem Markt sind. KIs werden aber auch in der Therapie eingesetzt, beispielsweise bei der Triage, wo sie als Entscheidungsunterstützung zur Behandlung dienen.

Welche Fortschritte bei KIs werden die größten Auswirkungen auf das Gesundheitssystem haben?

Das zu prognostizieren ist schwierig, da Hype-Kurven bedacht werden müssen. In der Bildgebung hat KI die Spitze des Hypes erreicht. Auf anderen Gebieten haben wir den Hype sicherlich noch vor uns. Die KI wird an unterschiedlichen Stellen in Wellen über uns hinweg schwappen. Der nächste Fokus wird auf Fehldiagnosen und -behandlungen liegen, deren Anwendungen viel Aufmerksamkeit generieren werden. Diese Art KI-Systeme werden irgendwann Eingang in Praxis finden, ohne dass der Endverbraucher das überhaupt noch wahrnimmt – ähnlich wie beim ABS im Auto.  

Welche regulatorischen Anforderungen müssen Hersteller bei der Entwicklung von KIs für die Medizin beachten?

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Prof. Dr. Christian Johner, Inhaber und Gründer des Johner Instituts für IT im Gesundheitswesen.
Quelle: Ulrike Sommer — Schatten - Licht - Farbe

Wir können nicht für jede Klasse von Medizinprodukten ein eigenes Gesetzeswerk erstellen. Das kann und will der Gesetzgeber gar nicht liefern. Es gibt Anforderungen, die in der Medizinprodukte-Richtlinie bzw. zukünftig in der Medizinprodukte-Verordnung festgelegt sind. Diese müssen jetzt für die bisherigen KI-Verfahren angepasst werden. Dabei sind die Verifizierung und Validierung der Systeme, die Stabilität und Wiederholbarkeit, die Gebrauchstauglichkeit wichtige Punkte, die bereits gesetzlich geregelt sind. Die Anforderungen besagen, dass der Nutzen der Systeme quantitativ nachgewiesen werden und die im Verfahren inhärenten Risiken überwiegen müssen.

Dieser regulatorische Rahmen lenkt uns bereits in eine gute Richtung. An den fehlenden Normen für die spezifischen Ausprägungen der KI arbeiten wir im Augenblick. In Zusammenarbeit mit den benannten Stellen wie dem TÜV habe ich eine Leitlinie erstellt, die diese Anforderungen durchdekliniert. Dabei geht es nicht nur um Produkte, sondern auch um Organisationen. So muss die Kompetenz der Mitarbeiter definiert und nachgewiesen werden.

Was sind denn Einschränkungen, die KIs haben bzw. haben sollten?

Eine KI sollte Vorurteilen keinen Vorschub leisten, was leider recht schnell passiert, je nachdem mit welchen Daten der Hersteller die Algorithmen trainiert. Sie dürfen auch nicht eingesetzt werden, wenn ihr Nutzen nicht eindeutig nachgewiesen wurde oder der Nutzen die Risiken nicht überwiegt.

Wir müssen ebenso diskutieren, ob wir zusammen mit der KI auch ökonomische Randbedingungen regulieren wollen. Sollen Krankenkassen beispielsweise KI einsetzen dürfen, um über die Kostenübernahme einer Behandlung zu entscheiden?

Es grassiert die Vermutung, dass KIs den Mediziner ersetzen werden, insbesondere in der Bildgebung. Wird das passieren?

Wir beklagen doch heute bereits den Ärztemangel, und die medizinische Versorgung wird zukünftig nicht einfacher. Ich hoffe, dass die KI den Ärzten Arbeit abnimmt. Sie werden schließlich programmiert, um sie bei Routine-Aufgaben zu unterstützen. KI ist in einzelnen Bereichen leistungsfähiger als der Mensch. Aber das ist keine neue Erfahrung für den Einzelnen, der Lastwagen ist schließlich auch leistungsfähiger beim Transportieren von Gütern als der Mensch. Genauso sollten wir auch die KI betrachten: Sie ist ein Hilfsmittel, das gewisse Dinge besser kann als der Mensch. KI wird den Ärzten mehr Zeit lassen, sich um die Patienten zu kümmern.

Dafür braucht es Ärzte, die in der Lage sind, aus KI gewonnene Informationen sinnvoll für die Diagnostik einzusetzen oder entsprechende Therapievorschläge zu bewerten und sinnvoll umzusetzen, und damit die menschliche Intelligenz aufzuwerten.


Profil:
Prof. Dr. Christian Johner ist Inhaber und Gründer der Johner Institut GmbH, einem Beratungshaus für Hersteller von Medizinprodukten. Der promovierte Physiker lehrte an der Hochschule in Konstanz Software-Architektur, Software-Engineering, Software-Qualitätssicherung und medizinische Informatik. Ein Forschungsaufenthalt führte ihn 2010 und 2011 an die Stanford University, wo er an der Entwicklung des Ontologie-Editors „Protégé“ mitwirkte und Vorlesungen im Fach "Modeling of Biomedical Systems" hielt.

09.10.2019

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