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Multiple Sklerose: 'Digitale Zwillinge' sollen Therapien verbessern

Das Multiple Sklerose Zentrum (MSZ) an der Klinik für Neurologie des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus Dresden baut seine Digital-Health-Expertise bei Therapie und Erforschung der Multiplen Sklerose (MS) mit einem ambitionierten wissenschaftlichen Projekt aus.

Aufbauend auf zahlreichen, vor allem in der Diagnostik erfolgreich integrierten digitalen Instrumenten startet das ärztliche Team des MSZ jetzt damit, die Basis für einen ‚Digitalen MS-Zwilling‘ zu schaffen und so den Weg zum „MS-Management 2.0“ zu ebnen. Als Vorreiter bei der Umsetzung von Digital Health-Konzepten sammelt das MS-Zentrum seit rund 20 Jahren kontinuierlich Patientendaten und wertet sie aus. Dies ist eine gute Grundlage für die weitere Entwicklungsarbeit. Auf diese Weise profitieren MS-Patienten künftig noch mehr von den Konzepten der digitalen Neurologie.

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Digitaler Zwilling (Symbolbild)

Bildquelle: Gerd Altmann auf Pixabay

„Mit dem ‚Digitalen MS-Zwilling‘ zünden wir für unsere Patientinnen und Patienten die nächste Stufe unseres Digital Health-Konzepts“, sagt Prof. Tjalf Ziemssen, Gründer und Leiter des MS-Zentrums an der Klinik für Neurologie. Die Voraussetzungen sind gut: Mit monatlich rund 1.000 Patienten ist es eines der größten akademischen Multiple-Sklerose-Zentren Deutschlands und verfügt seit nunmehr gut 20 Jahren über ein kontinuierlich ausgebautes MS-spezifisches Patientendokumentationssystem sowie zahlreiche digitale Anwendungen im Versorgungsalltag, die erprobt und routinemäßig eingesetzt werden. Dazu gehört nicht nur die Tablet-gestützte Abfrage von subjektiven Symptomen wie zum Beispiel der häufig bei MS auftretenden Müdigkeit, sondern auch digitale, teilweise von den Betroffenen selbst vorgenommene Tests zu Konzentration, Gehfähigkeit, Sehfähigkeit und Geschicklichkeit der Hände. Eine detaillierte Untersuchung der Gehfunktion wird darüber hinaus halbjährlich mit speziellen Sensoren vorgenommen, um etwaige Gangstörungen im Verlauf erkennen zu können. Neben digitalisierten Testverfahren findet auch die regelmäßige Dokumentation des Ist-Zustandes und die Kontrolle des Krankheitsverlaufs ebenso überwiegend digital statt wie das Verwalten der Daten im Rahmen der MS-Versorgung.

„Mit der Zustimmung unserer Patientinnen und Patienten haben wir in den letzten 20 Jahren einen enormen Datenschatz aufgebaut, der weiterhin stark wächst“, beschreibt Prof. Ziemssen die gute Ausgangslage für das neu gestartete Projekt des ‚Digitalen MS-Zwillings‘. In der Medizin wird der ‚Digitale Zwilling‘ als virtueller Spiegel beziehungsweise als digitales Abbild von erkrankten Menschen bezeichnet. Das Konzept ermöglicht es den Behandlern künftig, persönliche Krankengeschichten und den individuellen Gesundheitszustand zu simulieren. Zum Einsatz kommt – neben medizinischem Wissen und datengesteuerten Berechnungsverfahren – unter anderem Künstliche Intelligenz. Die Perspektive für MS-Erkrankte und deren Behandlungsteams ist vielversprechend: Das Konzept des ‚Digitalen Zwillings‘ beinhaltet eine computergestützte Simulation und Modellierung, die unter anderem die Vorhersage von Krankheitsverläufen und Behandlungserfolgen sowie ein individuelles Krankheitsmanagement ermöglicht. So lässt sich beispielsweise die individuelle Medikamentenverträglichkeit für die Behandelten vorab und ohne Risiko testen, wodurch diese Therapien schneller und gezielter einsetzbar werden.

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Das Konzept der Zwillingsstrategie stammt ursprünglich aus der Raumfahrt. Im Apollo-Programm der NASA wurden am Anfang noch ganz analog zwei identische Raumfahrzeuge gebaut – eines flog ins All, das andere blieb auf der Erde. So war es möglich, bei technischen Problemen die Bedingungen des gestarteten Fahrzeugs exakt zu spiegeln. In der Industrie war 2003 erstmals von einem ‚Digitalen Zwilling‘ die Rede: als virtuelle Repräsentation eines physischen Objekts, mit dem Ziel, es am Computer zu bewerten und zu optimieren. Beispiele sind Online-Betriebsüberwachung von Prozessanlagen oder Echtzeit-Überwachungssysteme zur Erkennung von Leckagen in Öl- und Wasserpipelines.

Seit 2012 steigt die Zahl der Forschungsstudien zu ‚Digitalen Zwillingen‘ an, darunter auch in den Bereichen Gesundheitswesen und Medizin. Ein Beispiel ist die Entscheidungshilfe bei der Wahl einer bestimmten Therapie, die vor allem im Bereich chronischer Erkrankungen wie der MS Anwendung finden kann. Das Konzept des ‚Digitalen MS-Zwillings‘ ermöglicht es den Erkrankten zu erkennen, welche Folgen aus der Entscheidung für eine bestimmte verlaufsmodifizierende Therapie erwachsen: Wie viele und welche Kontrollen werden wann notwendig – etwa eine MRT, Blutkontrollen oder anderes? Wenn es die Wahl zwischen mehreren Therapien gibt, können die Behandelten sehen, was die jeweilige Therapie künftig für sie bedeutet.

Um dieser und weiteren Vorhersagemöglichkeiten näher zu kommen, plant das ärztliche Team des MSZ einen ‚Digitalen MS-Zwilling‘, der mit den höchst individuellen Patienten-Merkmalen gepaart ist und diesen möglichst allumfassend widerspiegelt. Der ‚Digitale MS-Zwilling‘ basiert auf verschiedenen Kenngrößen der MS – etwa Parametern aus der neurologischen Untersuchungen und Funktionstests, aus der Bildgebung, aus neuartigen neurobiologischen und immunologischen Daten sowie aus Informationen über die Lebensumstände und -pläne des Patienten –, die mithilfe von auf künstlicher Intelligenz basierenden Berechnungsverfahren analysiert werden. Den Behandlern ist es dadurch möglich, große Mengen an Patientendaten aus verschiedenen Quellen zusammenzuführen, zu verarbeiten und für das Krankheitsmanagement zu nutzen. Mit einer übersichtlichen Darstellung von voranalysierten Patientendaten auf einem Dashboard kann der Arzt die zu Behandelnden optimal beraten und gemeinsam mit der zu behandelnden Person individualisierte klinische Entscheidungen treffen.

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Zudem präsentiert der ‚Digitale MS-Zwilling als intelligentes System den klinischen Pfad, also den konkreten Weg des Patienten durch die verschiedenen Prozeduren der Behandlung im MS-Zentrum. Somit dient er nicht nur als Wegweiser durch die individuelle Behandlung, sondern stellt gleichzeitig ein Qualitätssicherungsinstrument für Ärzte und insbesondere für Patienten dar. Auf diese Weise können Patienten den Weg durch ihren persönlichen Pfad verfolgen und sehen, ob sie gut behandelt werden. Sie nehmen damit aktiv an der Qualitätsverbesserung ihres Behandlungsprozesses teil. Das medizinische Personal wiederum hat die Möglichkeit, die Behandlungsschritte auf Basis spezifischer Qualitätsindikatoren zu optimieren. Die Erarbeitung dieser Qualitätsindikatoren sowie deren Implementierung in die klinischen Pfade sind Teil des aktuell laufenden Projekts „Pfadgestütztes Qualitätsmanagement in der MS-Versorgung“ (QPATH4MS). Dieses durch den Europäischen Fond für regionale Entwicklung (EFRE) geförderte Projekt führt das MS-Zentrum gemeinsam mit den Kooperationspartnern der TU Dresden, Professur für Wirtschaftsinformatik, insbes. Systementwicklung, der MedicalSyn GmbH, der Symate GmbH sowie der Carus Consilium Sachsen (CCS) GmbH durch. Die Ergebnisse des Projekts bilden einen wichtigen Baustein für den ‚Digitalen MS-Zwilling‘.

‘Digitale Zwillinge‘ könnten die notwendige Umsetzung dieses individualisierten Managements der Multiplen Sklerose entscheidend voranbringen

Tjalf Ziemssen

„Ein Dashboard, das die auf der Basis des ‚Digitalen Zwillings‘ generierten Daten nutzerfreundlich präsentiert, hat ein enormes Potenzial. In vielen medizinischen Fächern kann es die Arzt-Patienten-Kommunikation stärken und eine patientenzentrierte Versorgung unterstützen“, sagt Prof. Heinz Reichmann, Direktor der Klinik für Neurologie am Dresdner Uniklinikum. „Unser Fach erscheint für diese Innovation geradezu prädestiniert. Ich bin als Klinikdirektor und Dekan der Medizinischen Fakultät stolz, dass es dem Team des MS-Zentrums gelungen ist, frühzeitig erfolgreiche Konzepte der digitalen Medizin zu entwickeln und einzuführen, so dass die Hochschulmedizin Dresden auch auf diesem Gebiet eine Vorreiterrolle übernommen hat.“

„In unserer Vision des ‚Digitalen MS-Zwillings‘ wird es den Behandelnden möglich sein, sich zahlreiche Behandlungsdaten sowohl retrospektiv als auch prospektiv – etwa durch Simulationen anhand datengesteuerter Berechnungsverfahren – verständlich und übersichtlich angeordnet auf einem Dashboard anzusehen“, erklärt Prof. Ziemssen. Für die an Multipler Sklerose Erkrankten haben die Konzepte des ‚Digitalen MS-Zwillings‘ und des daran geknüpften Dashboards eine große Bedeutung, weil sie ein individualisiertes, innovatives Krankheitsmanagement ermöglichen. Auf diese Weise lässt sich die Komplexität dieser chronischen, multidimensionalen Erkrankung besser bewältigen. „‘Digitale Zwillinge‘ könnten die notwendige Umsetzung dieses individualisierten Managements der Multiplen Sklerose entscheidend voranbringen. Auch wenn die Entwicklung des Konzepts für MS-Patienten momentan noch in den Kinderschuhen steckt, wird es sich zu einem revolutionären Werkzeug entwickeln, mit dem sich Diagnose, Überwachung und Therapie ebenso verbessern lassen, wie das Wohlbefinden unserer Patientinnen und Patienten“, sagt Prof. Ziemssen. Weitere erwartbare Effekte seien das bessere Vorbeugen des Fortschreitens der Krankheit sowie eine Kostenreduktion in der Krankenversorgung.

Datenbasis für die Realisierung des ‚Digitalen MS-Zwillings‘ bilden verschiedene bereits vorhandene Bausteine: Das MSZ erhebt viele krankheitsrelevante Daten bereits digital. Beispiele sind Daten aus der klinischen Untersuchung sowie aus der klinischen Beurteilung. Perspektivisch sollen sogenannte digitale Biomarker – das sind Datenmuster, die aus verschiedenen Quellen wie tragbaren Sensorsystemen abgeleitet werden können – und neuartige neurobiologische und immunologische Daten verfügbar sein. Diese müssen nicht nur die Ansprüche an eine hohe Qualität erfüllen, sondern auch die an Datenschutz und Datensicherheit. Ist diese Basis geschaffen, werden Algorithmen entwickelt und getestet. Bevor sich jedoch ‚Digitale Zwillinge‘ in der Versorgung von MS-Patienten einsetzen lassen, müssen Wirksamkeit und Sicherheit ihrer Methoden nachgewiesen werden. Dazu sind wissenschaftliche Studien im realen Setting notwendig. Solange sich der ‚Digitale MS-Zwilling‘ noch in der Entwicklungsphase befindet, werden die Experten ihn als einen Auszubildenden in der Patientenversorgung ansehen und dessen Entwicklung proaktiv anleiten, beaufsichtigen und überwachen, bevor er in der klinischen Routine eingesetzt werden kann.


Quelle: Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden

21.05.2021

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