Artikel • Chancengleichheit in Orthopädie & Unfallchirurgie
Keine Angst vorm Knochenjob: Mentoring-Programme für Frauen wichtiger denn je
In den letzten Jahren entscheiden sich immer mehr Frauen für den medizinischen Fachbereich der Orthopädie und Unfallchirurgie. 25 Prozent der Assistenzärzte sind derzeit weiblich, womit Deutschland im internationalen Vergleich weit vorn liegt. Doch was kommt danach? Viele Frauen beenden die Facharztausbildung nicht, gerade mal fünf Prozent der Chefarztpositionen sind an deutschen Unikliniken mit Frauen besetzt, und der Anteil an habilitierenden Frauen in der Orthopädie liegt bei unter 10 Prozent. Annika Hättich, Fachärztin für Orthopädie und Unfallchirurgie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, setzt sich dafür ein, dass ihr Fachbereich für Frauen attraktiver wird und wirbt für mehr Chancengleichheit.
Bericht: Sonja Buske
Über dem Fachbereich der Orthopädie und Unfallchirurgie schwebt immer noch der Mythos des „Knochenjobs“. Die Vorstellung von „roher Gewalt“ im OP und extremer körperlicher Anstrengung sowie die Angst, aufgrund von Kraftmangel, Körpergröße oder Statur während einer Operation zu versagen, hält viele Frauen davon ab, diesen Weg einzuschlagen. Dabei kann Hättich an einer Hand abzählen, wie oft ihr in acht Berufsjahren die Kraft gefehlt hat, eine OP durchzuführen. „Natürlich kommt man ins Schwitzen, aber das ist bei anderen Fachrichtungen oft auch so. Körperliche Ausdauer kann man zudem trainieren. Außerdem ist man nie allein im OP-Saal. Wenn tatsächlich mal die Kraft fehlt, ist immer jemand aus dem chirurgischen Team zur Unterstützung da.“ Die Dauer orthopädischer Operationen ist heutzutage zudem überschaubar. Hättich: „Früher stand man schonmal bis zu zehn Stunden im OP, heute dauern die meisten Operationen dank moderner und minimalinvasiver Technik im Durchschnitt nur noch ca. zwei Stunden.“
OP-Zeit mit Teilzeit gut vereinbar
Die verkürzte OP-Zeit ist auch vor dem Hintergrund der Vereinbarkeit von Familie und Beruf wichtig, denn eine zweistündige Operation lässt sich besser in einen Teilzeit-Alltag integrieren als eine zehnstündige. Dennoch mangelt es vielerorts an guten Teilzeitmodellen. „Leider hält sich an einigen Stellen das Vorurteil noch immer hartnäckig, dass man im Teilzeitmodell weniger leistungsfähiger ist und viel verpasst“, weiß Hättich. „In Kliniken aber, in denen die Mitarbeiter pünktlich gehen können und Chefärzte auf geregelte Arbeitszeiten achten, sind die Teilzeitkräfte zufriedener und oftmals auch leistungsfähiger. Und das gilt nicht nur für Mütter. Immer mehr Väter verlangen nach Elternzeit und möchten nicht mehr Vollzeit arbeiten. Es müssen Bedingungen geschaffen werden, die beides ermöglichen – Familie und Karriere.“
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„Frauen müssen stärker in Studien und Leitlinien einbezogen werden“
Frauen und Männer sind unterschiedlich. Kaum jemand wird diese Aussage anzweifeln, dennoch spielt das Geschlecht in der Medizin eine untergeordnete Rolle. Weder in der Forschung noch in der Prävention noch in der Therapie wird dieser Unterschied angemessen berücksichtigt. „Das ist nicht länger akzeptabel“, findet Prof. Dr. Vera Regitz-Zagrosek.
Hättich hat schon viele Kolleginnen erlebt, die auf halber Strecke aufgeben. „Während der Facharztausbildung muss man sich meistens entscheiden: Will ich eine Familie gründen, oder will ich Karriere als Oberärztin oder sogar Chefärztin machen?“ Ärztinnen, die sich in diesem Spagat befinden und eine Familie gründen, brechen dann mitunter ihre Facharztausbildung ab oder wechseln nach der Prüfung wegen passenderen Arbeitszeitmodellen in eine niedergelassene Praxis.“ Die Hamburger Medizinerin macht unter anderem mangelnde Unterstützung dafür verantwortlich. „Männer unterstützen sich intensiver, zum Beispiel in Mentoring-Programmen oder durch Netzwerke. Zwar gibt es an manchen Universitäten auch Mentoring-Programme für Chirurginnen, allerdings nicht speziell für die Orthopädie und Unfallchirurgie. Wir Frauen sind so stark in der Unterzahl, dass wir gefühlt auf uns allein gestellt sind.
Junges Forum O&U
Dem möchte das Junge Forum O&U entgegenwirken: Gegründet wurde es vor 20 Jahren zur Vertretung der Interessen junger Ärzte in Weiterbildung im Fachbereich Orthopädie und Unfallchirurgie. Hättich leitet die Sektion Nachwuchsförderung und ist in den Bereichen Weiterbildung, Familie und Beruf, Wissenschaft und interdisziplinäre Zusammenarbeit aktiv. Angesprochen sind Männer und Frauen gleichermaßen, die Mitglieder und Führungskräfte sind allerdings überwiegend weiblich. Ein Thema, wofür sie sich mit ihrem Team besonders eingesetzt hat, ist das Operieren während der Schwangerschaft – bisher ein Tabu. „Studien belegen inzwischen, dass auch für schwangere Frauen unter bestimmten Bedingungen im OP kein erhöhtes Risiko besteht“, erklärt Hättich. „Wenn eine OP ohne Gas-Narkose und ohne Röntgenstrahlen durchgeführt wird, spricht nichts dagegen. Viele schwangere Operateurinnen sind dankbar für diesen Schritt, da sie dadurch nicht so viel Zeit in ihrer Weiterbildung verlieren.“
Anfang 2021 hat sich ein weiterer Verein gegründet, der Ärztinnen in chirurgischen Arbeitsfeldern eine Plattform für den Erfahrungs- und Wissensaustausch bieten möchte. „Die Chirurginnen“ kommen dem Wunsch vieler Frauen nach, sich zu vernetzen, voneinander zu lernen und miteinander zu wachsen. Hättich möchte, dass sich Frauen organisieren und zusammen daran arbeiten, wie sie stärker wahrgenommen werden und beruflich weiterkommen können. Aber: „Unser Ziel ist, gleichberechtigt als Team zu arbeiten, egal in welchem Arbeitszeitmodell. Es ist wichtig, dass das Team gut funktioniert und keine zwei Lager entstehen“.“ Sie selbst hat den nächsten Schritt bereits geschafft: Ab dem 1. Juli ist Hättich als Oberärztin in der Hamburger Klinik tätig.
Profil:
Annika Hättich ist Fachärztin für Orthopädie und Unfallchirurgie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Am 1.7.2021 tritt sie dort die Stelle der Oberärztin an. Seit 2013 engagiert sie sich im Jungen Forum O&U, dessen Leitung sie im Sommer 2021 übernehmen wird.
24.06.2021