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Früherkennung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen: Überwiegen Nutzen oder Kosten?

Das Bundesgesundheitsministerium hat mehrere Maßnahmen initiiert, um die Prävention von Herz- Kreislauferkrankungen in Deutschland zu fördern. Die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie und die Deutsche Herzstiftung diskutieren vermeintliche Kritikpunkte am Vorhaben des Gesundheitsministeriums.

Sie kommen zu dem Schluss, dass der Nutzen die Kosten deutlich überwiegt. Ihre vollständige Stellungnahme ist auf dem Portal Herzmedizin aufrufbar

Schon länger fordern kardiovaskuläre Fachgesellschaften eine Verbesserung von Forschungsbedingungen und Präventionsmaßnahmen in Deutschland. Zu diesem Zweck schlossen sich die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung e. V. (DGK) und weitere herzmedizinische Fachgesellschaften und die Herzstiftung als Patientenvertretung zur Nationale Herz-Allianz zusammen. Die Initiative hat das Ziel, die Forschung und Patientenversorgung im Bereich Herzgesundheit zu verbessern.Die Themen Vorbeugung und Früherkennung haben in diesem Jahr durch die Gesundheitspolitik viel Aufmerksamkeit erfahren. Zu den Auslösern gehörte unter anderen der aufmerksamkeiterregende Artikel „The underwhelming German life expectancy“, erschienen im April beim European Journal of Epidemiology. Darin heißt es, die in Deutschland lebenden Menschen hätten im Vergleich zu anderen OECD-Ländern die geringste Lebenserwartung (mit Ausnahme der USA) bei gleichzeitig hohen Gesundheitsausgaben. Die Autoren schreiben diesen Umstand einer hohen Sterblichkeit bei Herz-Kreislauferkrankungen sowie mangelnder Früherkennung und Prävention derselbigen zu. 

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Im Zuge dieser Entwicklungen teilte das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) Anfang Oktober mit, ein neues Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin (BIPAM) aufbauen zu wollen, welches mit der Vermeidung nicht übertragbarer Erkrankungen beauftragt werden soll. Neben Krebs und Demenz werden hier erstmals auch Koronare Herzkrankheiten in den Mittelpunkt gestellt. Zudem veröffentlichte das BMG ein Impulspapier mit Plänen, die Früherkennung und Prävention kardiovaskulärer Ereignisse zu forcieren. Mittelfristig sollen diese in eine Gesetzesinitiative überführt werden. Die vorgeschlagenen Maßnahmen umfassen unter anderen eine Verbesserung der Früherkennung bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zur Identifizierung der familiären Hypercholesterinämie (FH). Warum ist das bemerkenswert?

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Prof. Dr. Stephan Baldus, Past-Präsident der DGK

© HKM/Ronny Kretschmer

FH ist eine erbliche Stoffwechselkrankheit, bei der LDL-Cholesterin nicht richtig abgebaut wird, was schon im mittleren Lebensalter zu Arteriosklerose und Herzinfarkten führen kann. Die aktuelle Früherkennungsmaßnahme, nämlich ein simples Anamnesegespräch beim Kinderarzt, hat versagt. 95% der Fälle werden hierzulande nicht entdeckt. Etwa eins von 250 Kindern wird in Deutschland mit FH geboren. “Damit ist die familiäre Hypercholesterinämie die häufigste vererbbare Krankheit in Deutschland“, sagt Prof. Stephan Baldus, Past-Präsident der DGK. „Bei diesen Zahlen müssen wir davon ausgehen, dass heute über 315.000 Menschen in Deutschland mit dieser Stoffwechselkrankheit leben, die bei ihnen nicht diagnostiziert ist. Das bedeutet, 315.000 Menschen haben aktuell ein deutlich erhöhtes Risiko, vor ihrem 40. Geburtstag einen Herzinfarkt zu erleiden, und wissen es nicht einmal.“ 

Ein einfaches und kostengünstiges Lipid-Screening mittels Kapillarblutentnahme im Rahmen der U9-Untersuchungen beim Kinderarzt könnte schon in frühen Jahren Gewissheit bringen. Das würde die Möglichkeit eröffnen, diese Menschen frühzeitig zu therapieren. Aktuell laufen die beiden Vroni-Studien in Bayern und Niedersachsen, die den Nutzen dieser Früherkennungsmaßnahme untersuchen und bestätigen werden. Erste Zwischenergebnisse zeigen einen deutlichen Anstieg der Zahl leitliniengerecht behandelter Kinder seit Februar 2023 von 49% auf 84%.1 Schon jetzt zeigen Langzeit-Daten von Kindern mit FH, die mit Statinen behandelt wurden, im Vergleich zu unbehandelten eine erhebliche Risikoreduktion für das Auftreten einer kardiovaskulären Erkrankung: Von den 156 unbehandelten Patienten starben 11 vor dem 40. Lebensjahr an Herzinfarkten. Aus der behandelten Gruppe starb niemand. FH frühzeitig zu erkennen und therapieren, rettet also Leben.

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Prof. Dr. Thomas Voigtländer, Vorstandsvorsitzender der Herzstiftung
Quelle: portrait of thomas voigtländer

 © Deutsche Herzstiftung/Andreas Malkmus

„Halten wir uns weiterhin die Schäden vor Augen, die ein Herzinfarkt bei den Patienten verursacht. Ein Herzinfarkt erhöht nicht nur die Gefahr eines plötzlichen Herztods, sondern er erhöht auch das Risiko für irreparable Schäden am Herzmuskel und damit für Einbußen an Herzfunktion in Form der Herzinsuffizienz (Herzschwäche). Hinzu kommen die Einweisung sowie Behandlung im Krankenhaus und der damit verbundene Ausfall von Arbeitskraft, was zwangsläufig auch negative Konsequenzen für Betriebe, die Volkswirtschaft und die Krankenkassen hat“, so Prof. Thomas Voigtländer, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Herzstiftung. Im Jahr 2020 beliefen sich die Krankheitskosten für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems laut Statistischem Bundesamt auf 56,7 Milliarden Euro. Allein der akute Herzinfarkt hatte daran einen Anteil von 2,81 Milliarden Euro. Dagegen belaufen sich die Kosten für die Lipid-Screenings auf 2.090 Euro pro verhinderten Todesfall. „Vor diesem Hintergrund sind die überschaubaren Mehrkosten für diese Präventionsmaßnahme mehr als vertretbar. Bereits die Vroni-Studie in Bayern konnte zeigen, dass ein Behandlungsbeginn im Kindesalter bedrohliche koronare Folgeereignisse kosteneffizient verhindern, die Lebensqualität verbessern und die Sterblichkeit senken kann“, so Voigtländer. 

Unabhängig vom finanziellen Aspekt könnte man die Frage nach personellen Hürden stellen. So steht berechtigterweise zu befürchten, dass dieser zusätzliche Aufwand von den Ärzten aufgrund des Fachkräftemangels im Gesundheitswesen derzeit nicht gestemmt werden kann. Der Politik liegen aber bereits entsprechende Konzepte vor, um diesem Umstand zu begegnen. Konkret sollten zum einen die Chancen der Digitalisierung stärker genutzt und schnellstmöglich flächendeckend umgesetzt werden, um bestimmte Prozesse effizienter zu gestalten. Zum anderen können Screening-Untersuchungen problemlos in den nicht-ärztlichen Bereich ausgelagert werden. Diese Konzepte gilt es nun zum Wohle einer gesamtheitlich positiven Entwicklung unseres Gesundheitssystems umzusetzen. 

Die Primärprävention kardiovaskulärer Erkrankungen sei sicherlich kein Allheilmittel, so die Experten. Vor allem in Verbindung mit anderen Maßnahmen, wie der Verhältnisprävention, sei sie aber ein wichtiger, komplementärer Baustein zur Verbesserung der Herzgesundheit der Bürger in Deutschland. Diese Chance sollte dringend genutzt werden, lautet ihr Appell.

Anfang 2021 startete die Vroni-Studie in Bayern unter der wissenschaftlichen Leitung von Prof. Heribert Schunkert vom Deutschen Herzzentrum München (DHM). Aufgrund des bisherigen Erfolgs wurde beschlossen, die Studie auf Niedersachsen unter dem Namen „Vroni im Norden“ auszuweiten. Im Rahmen der Studie können Eltern ihre Kinder im Alter von 5 bis 14 Jahren kostenlos auf die erbliche Stoffwechselkrankheit familiäre Hypercholesterinämie testen lassen. Die Studie folgt einer aktuellen evidenzbasierten Leitlinie der International Atherosclerosis Society.2 Auf europäischer Ebene wurde das pädiatrische FH-Screening im Jahr 2021 vom Best-Practice-Portal der Europäischen Kommission im Bereich der öffentlichen Gesundheit als eine der besten Strategien zur gezielten Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen anerkannt.3

Referenzen: 

  1. Pressemitteilung vom 14.11.2023: „Große Akzeptanz für Früherkennung der Familiären Hypercholesterinämie in Deutschland: die VRONI Studie identifiziert in Bayern über 160 Familien in nur 3 Jahren“ 
  2. Watts et al., International Atherosclerosis Society guidance for implementing best practice in the care of familial hypercholesterolaemia. Nat Rev Cardiol. 2023 Dec. 2023. doi: 10.1038/s41569-023-00892-0
  3. Gidding, S.S., et al., Paediatric familial hypercholesterolaemia screening in Europe: public policy background and recommendations. Eur J Prev Cardiol, 2022. 29(18): p. 2301-2311.


Quelle: Deutsche Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislauferkrankungen

08.12.2023

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