Artikel • Kongress "Digital Health NOW!"
Digitalisierung im Gesundheitsbereich: Was bringt Deutschland und Europa voran?
Auf dem Online-Kongress „Digital Health: NOW!“ im November stand die Entwicklung und der Transfer einer telemedizinischen, digital unterstützten Versorgung in Deutschland und in Europa im Fokus. Unter dem Motto „Digitale Innovationen im Gesundheitsbereich: Was Europa jetzt braucht!“ gingen die teilnehmenden Experten der Frage nach, was erforderlich ist, um die digitale Versorgung zu gestalten und auszubauen, und wie Referenznetzwerke und Digital Hubs in Europa und Deutschland Innovationen und Veränderungen im System vorantreiben und begleiten können.
Bildquelle: Gerd Altmann auf Pixabay
Wir sprachen mit Prof. Dr. Carina Benstöm, Akademische Leiterin des Innovationszentrums Digitale Medizin (IZDM) am Universitätsklinikum Aachen.
HiE: In Ihrem Vortrag geht es um ein „Universitäres Telemedizinnetzwerk für eine standardisierte Erfassung und Integration von Forschungsdaten“. Was genau verbirgt sich dahinter?
Prof. Dr. Carina Benstöm: Mit unserem „Universitären Telemedizinnetzwerk“ – kurz UTN – möchten wir die Heterogenität der aktuellen telemedizinischen Infrastruktursysteme der deutschen Universitätskliniken überwinden. Ziel von UTN ist die standardisierte, telemedizinische Erfassung von Forschungsdaten zu Covid-19 – mit einem Fokus auf semantische und syntaktische Interoperabilität. Außerdem ist die Entwicklung eines evidenzbasierten Leitfadens für die telemedizinische Versorgung in Deutschland geplant. Das Projekt könnte damit eine bestehende Lücke in der Digitalisierung des deutschen Gesundheitssystems schließen. Umso mehr freuen wir uns, kürzlich die Förderempfehlung seitens des Netzwerks Universitätsmedizin (NUM) erhalten zu haben – allerdings noch vorbehaltlich des neuen Bundeshaushaltes. Ein wenig gedulden müssen wir uns daher noch, bis wir tatsächlich loslegen können. Wenn ich hier von „wir“ spreche, meine ich übrigens alle 36 (!) Universitätskliniken in Deutschland. Das ist wirklich einzigartig.
Geht es um ein Telemedizinnetz für eine Universitätsklinik oder auch um die Vernetzung mit anderen?
In Krisenzeiten müssen wir die Universitätsmedizin enger miteinander verknüpfen. Es geht daher um ein umfassendes Netzwerk zwischen den Universitätskliniken. Das NUM hat das Anliegen, die Best Practice Beispiele für Deutschland zentral zusammenfassen und deutschlandweit abrufbar zu machen, um die Forschungsaktivitäten der deutschen Universitätsmedizin zur Bewältigung der Covid-19-Pandemie zu stärken. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert mit 150 Millionen Euro den Aufbau des Forschungsnetzwerks. Zunächst ist das im Rahmen des NUM Projekts UTN für Long-Covid geplant – eine Indikation, über die wir derzeit nur wenig wissen. Grundsätzlich ist das Vorhaben aber für jede Indikation denk- und nutzbar.
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News • Neue S1-Leitlinie
Post Covid & Long Covid: Was tun, wenn Coronafolgen nicht verschwinden?
Was läuft bei einer SARS-CoV-2-Infektion im Körper ab, warum erkranken Infizierte unterschiedlich schwer und weshalb erholen sich manche Menschen deutlich rascher von der Infektion als andere? Auch nach rund eineinhalb Jahren der Corona-Pandemie sind diese Fragen noch nicht im Detail beantwortet.
Wie lässt sich das praktisch umsetzen?
Um schnell Daten einer bestimmten Personengruppe erfassen zu können, benötigen wir eine Kohorte. Das NUM Nationale Pandemie Kohorten Netz (NAPKON) ist hier eine sehr gute Grundlage. Es soll nicht mehr jede Uniklinik ihre eigne Kohorte haben. Vernetzt gelingt es uns schneller, Patienten zu rekrutieren und die gesammelten Daten auszuwerten.
Wir wollen eine Datenstruktur schaffen, die an allen Standorten einheitlich ist. Auf diese Weise möchten wir eine Vergleichbarkeit von Forschungsdaten herstellen. Eine Vernetzung von UTN mit der NAPKON ist sinnvoll, um standardisierte Endpunkte festzulegen. Aktuell werden diese oftmals „aus der Hüfte geschossen“. Flapsig gesagt bestimmt der eine die Mortalität an Tag 14 und der andere an Tag 28. Das ist ein Problem. Was wir brauchen ist ein Minimum Standard-Datenset für jede Fragestellung: also eine genaue Vorgabe, welche Outcomes wann gemessen werden (Core Outcome Sets). Forschung muss an dieser Stelle professionalisiert und evidenzbasiert werden. Wir müssen die relevanten Outcomes per Konsens – im besten Fall international und interprofessionell und auch aus Sicht der Patienten – festlegen. Nur so stellen wir auch eine internationale Vergleichbarkeit sicher und schaffen die Grundlage für Evidenzsynthesen als Basis für Leitlinien. Durch das UTN für Covid-19 werden wir schlagkräftiger – perspektivisch auch für andere Erkrankungen.
Können sich nur Universitätskliniken beteiligen?
Die Forschung hört nicht auf, wenn der Patient entlassen ist. Gerade die Anschlussbehandlung ist bei Covid-19 entscheidend
Carina Benstöm
Es geht zunächst darum, ein Framework zu etablieren, an dem alle universitären Krankenhäuser partizipieren können. Wichtig ist aber auch eine gewisse Skalierbarkeit. Zukünftig sollte die Infrastruktur meiner Meinung nach auf alle Krankenhäuser übertragbar sein – nicht nur für die Universitätsmedizin. Es ist außerdem denkbar, in einem zweiten Schritt von der reinen Forschung in die Versorgung zu treten. Wenn wir es schaffen, die aktuelle Lücke für die Forschung zu schließen, dann schaffen wir es auch, gemeinsam zu versorgen.
Perspektivisch ist der Nutzen auch für die ambulante Versorgung und ganz unmittelbar für die Patienten spürbar, insbesondere bei Long-Covid. Die Forschung hört nicht auf, wenn der Patient entlassen ist. Gerade die Anschlussbehandlung ist bei Covid-19 entscheidend. Viele Patienten haben lange Anfahrtswege zum Krankenhaus – zu lang für regelmäßige Wiedereinbestellungen. In solchen Fällen könnte die Weiterversorgung intersektoral koordiniert werden z. B., indem eine erforderliche Blutabnahme durch den Hausarzt erfolgt und weitergehende Fragen und Untersuchungen digital durch Telemedizin ablaufen. Der Patient muss zu diesem Zweck nicht erneut in die Uniklinik kommen – gerade nicht in Pandemiezeiten. Das schützt sowohl die Patienten als auch die Behandelnden und sorgt für eine lückenlosere Datenerhebung – intersektoral, interdisziplinär und multiprofessionell. Der Zugang muss daher möglichst niedrigschwellig sein: leicht, pragmatisch, einfach.
NUM und auch UTN sind deutsche Initiativen. Reicht das aus?
Ein Virus macht an Landesgrenzen nicht halt. Seine Bekämpfung muss daher zwingend international gedacht werden. Unsere Versorgung ist darauf bisher nicht eingestellt. Aktuell scheitern wir bei diesem Thema allein schon an der Finanzierung. Eine länderübergreifende Zusammenarbeit wäre zum einen ein großer Gewinn für die Versorgung, zum anderen ist es essenziell, dass wir international Outcomes beobachten und Daten nutzen. Da liegt noch ein langer Weg vor uns, den Covid-19 uns in den letzten Monaten zumindest schon ein wenig geebnet hat.
Wie internationale Zusammenarbeit gelingt, sehen wir gerade in unserem Projekt ICU4COVID, in dem wir ein europäisches Netzwerk in der Telemedizin etablieren. Das Projekt beschäftigt sich mit der intensivmedizinischen Versorgung von Covid-19-Patienten. An jedem intensivmedizinisch betreuten Krankenbett ist ein intelligentes Telemonitoring-System angebracht. Damit wird eine Vielzahl an klinischen Daten generiert und in einem Telemedizin-Cockpit zusammengeführt. Dieses Cockpit wiederum ist mit den Cockpits anderer Krankenhäuser vernetzt. Auf diese Weise können wir Daten und Wissen austauschen und so die Qualität der Versorgung verbessen. Unter der Devise „proaktiv statt reaktiv“ ermöglichen Deep-Learning-Algorithmen außerdem Prognosen, wann ein bestimmter Behandlungsschritt im Optimalfall erfolgen sollte.
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Interview • Online-Kongress Digital Health: NOW!
Mit Telemedizin und Big Data die Gesundheitsversorgung in der EU stärken
Demografische Entwicklung, strukturelle Faktoren, personelle Defizite: Nicht nur durch die Covid-19-Pandemie steht das Gesundheitswesen in der EU vor großen Herausforderungen. Die Digitalmedizin kann dabei helfen, diesen gemeinsam zu begegnen.
Zurück zum UTN: Welche Daten werden für die Forschung standardisiert erfasst? Radiologie, Pathologie, Labor etc.?
Das Schöne ist, dass ich auf diese Frage keine konkrete Antwort geben kann, da ein universeller Einsatz denkbar ist. Zunächst fokussieren wir im UTN lediglich einen Usecase, um die Machbarkeit von UTN zu demonstrieren: Long-Covid. Grundsätzlich ist die Erfassung jeglicher Parameter denkbar. Gerade das macht das Projekt ja so interessant und so relevant.
Spielt der strukturierte Befund eine Rolle für die standardisierte Erfassung und Integration der Daten?
Es wäre grandios, wenn wir standardisierte Berichte von Befunden hätten. Derzeit haben wir noch große digitale Brüche, auch international. Auch da könnte unser Netzwerk wichtige Arbeit leisten und als Leuchtturm vorangehen. Aktuell wären wir ohne Study Nurses, die ihre Zeit damit verbringen müssen, Befunde zu digitalisieren, aufgeschmissen. Das geht nicht! Befunde, Evidenzsynthesen und Leitlinien müssen maschinenlesbar werden, damit sie Eingang finden können in eine elektronische Akte, in Forschungsdatenbanken, in Leitlinien und in Krankenhausinformationssysteme. Auch da können wir uns ein Beispiel an anderen Ländern nehmen, die da schon weiter sind. Mit UTN gehen wir hier einen ersten Schritt.
Profil:
Prof. Dr. Carina Benstöm ist Akademische Leiterin des Innovationszentrums Digitale Medizin (IZDM) am Universitätsklinikum Aachen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören neue Versorgungsformen durch Digitalisierung, patientenzentrierte Forschung, Leitlinienadhärenz in der Intensivmedizin, systematische Cochrane-Reviews und Meta-Analysen.
Projektsteckbrief:
Titel: Universitäres Telemedizinnetzwerk für eine standardisierte Erfassung und Integration von Forschungsdaten (UTN)
Hintergrund: Forschungsprojekt als Teil des Netzwerks Universitätsmedizin (NUM), koordiniert durch die Charité Berlin als bundesweite Koordinierungsstelle
Förderung: durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung
Sprecher-Duo:
Univ.-Prof. Dr. Gernot Marx, FRCA
Direktor der Klinik für Operative Intensivmedizin und Intermediate Care an der Uniklinik RWTH Aachen
Univ.-Prof. Dr. Anja Schneider
Klinik für Neurodegenerative Erkrankungen und Gerontopsychiatrie, Universitätsklinikum Bonn
23.11.2021