Videokonferenzen zwischen Arzt und Patient sind durch Covid-19 nochmals in den...
Videokonferenzen zwischen Arzt und Patient sind durch Covid-19 nochmals in den Fokus gerückt.

Quelle: La-Well Systems GmbH

Interview • Online-Kongress Digital Health: NOW!

Mit Telemedizin und Big Data die Gesundheitsversorgung in der EU stärken

Demografische Entwicklung, strukturelle Faktoren, personelle Defizite: Nicht nur durch die Covid-19-Pandemie steht das Gesundheitswesen in der EU vor großen Herausforderungen. Die Digitalmedizin kann dabei helfen, diesen gemeinsam zu begegnen. Am 23. November 2020 diskutieren beim kostenfreien Online-Kongress Digital Health: NOW! internationale Experten darüber, wie die Digitalmedizin mit Anwendungen wie der Telemedizin und Künstlicher Intelligenz (KI) eine vernetzte, wertebasierte Versorgung in der EU gewährleisten kann.

Digital Health: NOW! ist Teil des assoziierten Programms des Bundesministeriums für Gesundheit im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2020. Veranstalter sind die Deutsche Gesellschaft für Telemedizin (DGTelemed), das Innovationszentrum Digitale Medizin des Universitätsklinikums RWTH Aachen (IZDM) und die ZTG Zentrum für Telematik und Telemedizin GmbH.
Die Referenten und Veranstalter, Prof. Dr. med. Gernot Marx, Vorstandsvorsitzender des Mitveranstalters DGTelemed und Klinikdirektor für Operative Intensivmedizin der Uniklinik Aachen, Rainer Beckers, Geschäftsführer der ZTG GmbH, und Prof. Dr. Andreas Schuppert, Gründungsdirektor des Joint Research Center for Computational Biomedicine an der RWTH Aachen, im Interview über eine gemeinsame, europaweite Gesundheitsversorgung, die Realisierung von internationalen Telekonsilien und dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Intensivmedizin.

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Rainer Beckers
Quelle: ZTG GmbH

Warum ist eine europaweite Gesundheitsversorgung so wichtig? Haben sich Konzepte mit einer regionalen oder nationalen Zuständigkeit nicht bewährt? 

Beckers: Gerade die Pandemie zeigt, dass wir, was unsere Gesundheit anbetrifft, alle in einem Boot sitzen. Wir können viele Rahmenbedingungen, die Auswirkungen auf unsere Gesundheit haben, in Europa, und im Grunde genommen auch weltweit, nur gemeinsam gestalten. Auch bietet sich deshalb eine europaweite Gesundheitsversorgung an, um mit den nationalen Ressourcen international planen zu können. Wir sehen das jetzt in der Pandemie zum Beispiel hinsichtlich der Verfügbarkeit von Intensivbetten. Aber auch andere Versorgungsbereiche können betroffen sein. So fehlt zum Beispiel in vielen Ländern Europas eine hochentwickelte, stationäre Rehabilitation. Diese ist aber wesentlicher Bestandteil der Versorgung in Deutschland. Andere Länder wiederrum hatten bis dato fortgeschrittenere, digitale Versorgungsstrukturen, die möglicherweise für Deutschland interessant werden könnten. Insgesamt können also alle von einer europaweit koordinierten und ausgerichteten Gesundheitsversorgung profitieren. 

Wie kann eine internationale Versorgung Realität werden? 

Marx: Wenn man davon ausgeht, dass die europaweit organisierte Versorgung in wesentlichen Teilen eine Versorgung auf Distanz ist, dann wird schnell deutlich, dass digitale Methoden die zentrale Ressource sind, um eine solche Versorgung zu organisieren und zu gewährleisten. Ohne Digitalisierung wird man das Ziel einer europäisch ausgerichteten Gesundheitsversorgung nicht erreichen können. 

Beckers: Ich sehe das genauso. Eine europäisch organisierte Versorgung ist ohne Digitalisierung gar nicht denkbar. Dies ergibt sich naturgemäß schon aus den großen Entfernungen, die im Zweifel zu überwinden wären. Um eine europaweite Versorgung zu managen, braucht es selbstverständlich einen nahtlosen Transfer der Patientendaten, dies muss und kann durch eine einheitliche elektronische Patientenakte gelöst werden. Um ein Vertrauen in die internationale Versorgung gewährleisten zu können, braucht es zusätzlich ein einheitliches Qualitätssicherungssystem. Auch dafür sind digitale Methoden unverzichtbar. Letztlich müssten auch alle Unsicherheiten beseitigt werden, die sich mit der Vergütung von den im Ausland erbrachten, gesundheitlichen Dienstleistungen ergeben.

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Gernot Marx
Quelle: IZDM/Uniklinik RWTH Aachen

Wie kann man sich diese Art der europaweiten, digitalen Versorgung konkret vorstellen? 

Marx: Es befinden sich jetzt schon viele Projekte in der Erprobung, die auf nationaler Ebene zeigen, dass digitalmedizinische Anwendungen wie Telekonsilien oder Telemonitoring die Behandlungsqualität signifikant steigern können. So wie das Virtuelle Krankenhaus, eine Initiative des Landes Nordrhein-Westfalens, bei deren Vorstufe die Unikliniken Aachen und Münster Krankenhäusern der Grund- und Regelversorgung intensivmedizinische Expertise zu schweren stationären Covid-19-Verläufen in Form von Telekonsilien zur Verfügung gestellt haben. Hier lag beispielweise die Mortalität im Juli mit 20,6 Prozent deutlich unter den Zahlen, die eine kürzlich erschienene Studie mit Daten von mehr als 10.000 AOK-Versicherten nennt. Dort lag die Krankenhausmortalität bei 53 Prozent. Gerade die Inanspruchnahme von europaweiter Fachexpertise zum Beispiel zu seltenen Erkrankungen oder anderen Krankheitsbildern ließe sich heute schon über Videokonferenztechnik einfach realisieren. 

Beckers: Allerdings fehlt es hier, wie bereits erwähnt, noch an international klar definierten Vergütungsregelungen, Qualitätsstandards und einer einheitlichen, elektronischen Patientenakte als Voraussetzungen für solche internationale Telekonsilien. 

Können Sie jetzt schon Prognosen darüber treffen, wie sich die Etablierung der Telemedizin auf Europaebene entwickeln wird? 

Marx: Nicht zuletzt aufgrund der Pandemie ist es sehr schwierig, Prognosen darüber zu treffen, wie sich die telemedizinische Versorgung in Europa entwickeln wird. Was wir aber seit einigen Monaten beobachten können ist, dass digitalmedizinische Angebote wie Videosprechstunde oder Telekonsilien immer gefragter werden. Man kann also davon ausgehen, dass die Länder, die schon jetzt intensiv auf Telemedizin setzen, wie zum Beispiel Finnland, durch die Pandemie in ihrem Tun bestärkt werden und ihre Aktivitäten entsprechend ausbauen. Andererseits werden Länder, die bei der Digitalisierung noch zurückhalten sind, nun einen kräftigen Schub in Richtung digitaler Versorgung organisieren. Wann und in inwieweit sich allerdings der Gedanke durchsetzen wird, dass man die Strategien der einzelnen Nationalstaaten im Sinne einer gemeinsamen Versorgung koordinieren sollte, wird sich zeigen. Ermutigend ist, dass wir gerade ein großes EU-Projekt gefördert bekommen haben: „ICU4Covid“, im Rahmen dessen wir digitale ICU Hubs in Europa aufbauen, um intelligente, telemedizinische Netzwerke zwischen Zentren und Krankenhäusern der Grund- und Regelversorgung zu etablieren.

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Andreas Schuppert
Quelle: RWTH Aachen University

Die internationale Vernetzung und der Austausch von hochspezialisiertem Expertenwissen sind aber vermutlich nur ein erster Schritt, wenn man an die Zukunft einer digitalen Gesundheitsversorgung denkt. Stichwort hier ist Künstliche Intelligenz (KI). Gerade im Kampf gegen Covid-19, also im Bereich der Intensivmedizin, könnte sie in absehbarer Zeit die Behandlungsqualität verbessern.

Schuppert: Genau an der Entwicklung von KIs in diesem Behandlungsfeld arbeiten wir. Man muss sich das folgendermaßen vorstellen: Kritisch kranke Patienten werden auf Intensivstationen kontinuierlich überwacht. Dabei fallen fortlaufend und automatisch Daten an, die vom Arzt ausgewertet werden, um daraufhin verlässliche Therapieentscheidungen treffen zu können. Mit diesen kontinuierlich anfallenden Monitoring-Daten in Kombination mit biometrischen Daten und Laborwerten werden die KIs trainiert. So ist die KI in der Lage, dem Arzt eine zusätzliche „Brille“ zu geben: sie erlaubt ihm, komplexe Zusammenhänge zu sehen, die sich aus dem Zusammenspiel der vielen verschiedenen Daten ergeben. Damit soll das Risiko für das Auftreten kritischer Zustände früher erkannt werden und der Behandelnde kann, wenn sich eine bestimmte Messgröße ändert, proaktiv einschreiten. 

Werden solche Technologien schon eingesetzt? 

Schuppert: Der Einsatz derartiger KIs ist im Moment noch Zukunftsmusik. Da es sich hierbei um Medizinprodukte handelt, sind vor einem Einsatz aufwändige Studien zu absolvieren. Die meisten KI-Verfahren für die Medizin befinden sich daher erst im Entwicklungsstadium.

Ich bin aber zuversichtlich, dass KI-Verfahren in den nächsten zehn Jahren einen deutlichen Fortschritt in der medizinischen Versorgung ermöglichen werden. Vor allem in Einsatzbereichen, bei denen es um Bilderkennung und Analyse fortlaufender Datenströme geht, so zum Beispiel in der Radiologie, Dermatologie, Kardiologie oder Intensivmedizin. Der Fortschritt hier hängt allerdings auch stark von den Rahmenbedingungen ab. Große Hindernisse für die Entwicklung von KI-Verfahren für die Medizin stellen die mangelnde Verfügbarkeit von Forschungsdaten sowie hohe regulatorische Hürden dar. 

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Wie kann das Zusammenwirken von KI und Telemedizin die Versorgung verbessern? 

Schuppert: Gerade das Zusammenspiel von KI und Telemedizin könnte einen deutlichen Impact auf die Versorgungsqualität haben. Prinzipiell ermöglicht KI die Nutzung von Informationen aus sehr vielen Daten, mehr, als ein Mensch jemals bewältigen kann. So können seltene, sehr spezifische Muster in Daten durch KI interpretiert werden, die der behandelnde Arzt möglicherweise noch nie gesehen hat. Dasselbe bezweckt auch die Telemedizin: Sie ermöglicht einen breiten Zugriff auf ärztliche Expertise, die sonst in der Breite vor Ort nicht bereitgehalten werden kann. Insofern sind perspektivisch telemedizinische Anwendungen denkbar, bei denen zusätzlich zum Arzt auch KI-Experten remote konsultiert werden, die die ärztliche Diagnose unterstützen können.

Vielen Dank für das Gespräch.

Online-Kongress "Digital Health: NOW! am 23. November: Hier anmelden!

Quelle: ZTG

13.11.2020

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