Artikel • KI-Diagnostik

Lernen wie ein Mensch, kombinieren wie eine Maschine

Künstliche Intelligenz (KI) ist im allgemeinen Sprachgebrauch eine Decke mit ziemlich viel Platz darunter: Vom Schachcomputer bis hin zu Robotern, die die Menschheit wahlweise retten, unterwerfen oder gleich ganz ersetzen, ist alles dabei – und längst nicht alles, das KI genannt wird, ist es auch. Was also ist eigentlich Intelligenz und kann man sie überhaupt synthetisieren?

portrait of martin hirsch
Martin Hirsch ist Mitgründer und CSO der Ada Health GmbH

Dieser Frage ist Dr. Martin Hirsch auf dem Siemens Diagnostik Campus nachgegangen. In seinem Redebeitrag sinniert der Mitgründer und CSO der Ada Health GmbH darüber, warum der KI-Begriff so oft missverstanden wird – und warum die Technologie trotzdem das Potenzial hat, die Gesundheitsbranche weit voranzubringen.

Einige sehen in Machine Learning das Computer-Äquivalenz zur Intelligenz – doch für Hirsch haben die beiden Dinge nur wenig miteinander zu tun: „Für mich ist Intelligenz zunächst die Fähigkeit, sinnvolles Verhalten in einer Situation zu produzieren, in der man zuvor noch nie war. Ein Algorithmus, der einen Vorgang Tausende Male durchläuft und daraus Regeln ableitet, ist deshalb noch längst nicht intelligent.“ Denn dazu ist es nötig, aus bestehendem Wissen neue Hypothesen zu generieren und daraus gegebenenfalls Handlungsansätze abzuleiten, so der Hirnforscher.

Wo der Computer unzählige Datensätze braucht, um einen Vorgang halbwegs zuverlässig zu beherrschen, reicht beim Menschen oft ein einziges anschauliches Beispiel, um ein Verständnis zu erzeugen und komplexe Zusammenhänge zu erkennen. „Das liegt an unserer Fähigkeit zur Abstrahierung“, erklärt Hirsch. Auf dieser Grundlage Wissen aufzubauen, dauert zwar sehr viel länger als einen Algorithmus mit Datensätzen zu füttern, dafür entsteht im Gehirn des Mediziners ein tiefgreifendes Verständnis, das selbst bei unbekannten Fällen fundierte Lösungsansätze liefert.

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Die Mustererkennung, in der medizinisch eingesetzte Algorithmen große Fortschritte erzielt haben, taugt bestenfalls für eine Arbeitshypothese, ganz sicher aber nicht für eine belastbare Diagnose. Eine vom Computer erkannte vermeintliche Regelmäßigkeit kann zwar in der Physiologie des Patienten begründet liegen, im schlechtesten Fall aber auch in fehlerhaften Daten, zum Beispiel Bildartefakten. „Um ein Decision Support System zu bauen, darf man deshalb nicht ganz unten anfangen, sondern sollte auf gesichertem Wissen aus Studien aufbauen.“ Die KI, so Hirsch weiter, sollte ihr Grundwissen aus diesen Modellen beziehen, gleichzeitig aber auch selbst gesammelte Erkenntnisse aus der Mustererkennung mit einbeziehen. Diese Kombination kommt dem menschlichen Vorbild recht nahe, da angehende Ärzte zunächst vieles im Studium lernen, später in der Praxis ihr Wissen mit jedem bearbeiteten Fall durch Erfahrungswerte anpassen und erweitern.

„Wie bist du darauf gekommen?“

KI-Systeme werden sich in der Klinik und im Gesundheitswesen nur dann durchsetzen, wenn die Maschinen begründen können, warum sie zu ihrer Einschätzung kommen

Martin Hirsch

Nach diesen Vorgaben wurde auch Ada programmiert, eine KI-gestützte Plattform aus Hirschs gleichnamiger Firma. Sie wertet verschiedene Parameter aus, gewichtet diese und generiert daraus Hypothesen mitsamt einer Angabe zur Wahrscheinlichkeit, dass diese zutrifft. „Dazu gehört auch das Sammeln positiver und negativer Evidenz im Sinne einer Differentialdiagnose; Ada versucht, ähnliche Krankheitsbilder gegeneinander abzugrenzen und auszuschließen.“ Dieses Vorgehen soll dazu beitragen, den ‚Denkprozess‘ des Algorithmus für den Menschen nachvollziehbar zu machen. „Diese Transparenz ist enorm wichtig“, betont Hirsch. „KI-Systeme werden sich in der Klinik und im Gesundheitswesen nur dann durchsetzen, wenn die Maschinen begründen können, warum sie zu ihrer Einschätzung kommen.“

Das System deckt derzeit 18.000 Disease Codes nach der ICD-10-Klassifizierung ab – eine Zahl weit jenseits der Fähigkeiten eines menschlichen Arztes. „Viele Ärzte sind bereits damit überfordert, die ganze Bandbreite der Labordiagnostik zu kennen, weil deren Komplexität die kognitiven Fähigkeiten jedes menschlichen Gehirns schlichtweg überfordert“, so Hirsch. Und selbst, wenn der richtige Test eingesetzt wird, können immer noch die falschen Schlüsse aus dem Ergebnis gezogen werden – hier soll die KI dem Mediziner unter die Arme greifen. Laut einer aktuellen Studie im Orphanet Journal of Rare Diseases kann KI in 54% der Fälle früher einen Hinweis auf eine Erkrankung liefern als ein menschlicher Arzt.

Chatbot-Anamnese: Das digitale Patientengespräch

smartphone with medical app in hand
Die KI-gestützte Ada-App analysiert verschiedene medizinische Parameter
Quelle: Ada Health GmbH

Oft stehen Mediziner solchen Helfern skeptisch bis ablehnend gegenüber, bei Patienten ist die Kontaktscheu geringer. Mithilfe eines Chatbots, der der Ada-Datenbank vorgeschaltet wird, können Betroffene ihre Symptome schildern – wie bei einer klassischen Anamnese erstellt die KI aus diesen Angaben eine Arbeitshypothese, eine sogenannte Vordiagnose. „Inzwischen haben wir mehr als 12 Millionen solcher Assessments an über 7 Millionen Nutzer ausgeliefert“, sagt Hirsch – und ist überzeugt, einen Nerv getroffen zu haben. Denn der Chatbot bietet den Patienten das, was sie bei ihrem Arzt immer häufiger vermissen: Die KI nimmt sich Zeit und stellt so lange Fragen, bis sie zu einem Ergebnis kommt. Auch die Hemmschwelle, mit Scham behaftete Beschwerden anzusprechen, sinkt, wenn das Gegenüber ein Computer ist. „Das Gesundheitssystem der Zukunft wird nicht mehr in Wartezimmern beginnen, sondern in den Hosentaschen der Nutzer. Es ist ein grundlegendes Bedürfnis für Betroffene, mehr über Art und Therapierbarkeit ihrer Erkrankung herauszufinden – und daher glaube ich, dass hier das Einfallstor für KI in der Bevölkerung liegt“, argumentiert Hirsch. Den menschlichen Arzt, betont er, könne und werde dies jedoch nicht ersetzen.

Die Möglichkeiten, die sich aus dieser Entwicklung ergeben, sind vielfältig: „Wir können beispielsweise Patientenströme sinnvoll strukturieren“, so der Experte. So lassen sich durch gezielte Ratschläge Menschen davon abhalten, zum Hausarzt oder sogar in die Notaufnahme zu gehen, wenn keine Notwendigkeit dafür besteht.

Das Verfahren hat auch prädiktives Potenzial, so der Ada-Mitgründer: Als im Frühjahr 2019 die Zahl der Masernfälle in den USA massiv anstieg, hatte die KI den Ausbruch bereits erahnt – 6 Wochen vorher, denn auffällig viele Nutzer hatten mit dem Chatbot über entsprechende Symptome gesprochen. „Die Epidemiologie auf Symptombasis wird uns völlig neue Möglichkeiten eröffnen.“

Auch personalisierte Risikobewertung und Prävention werden auf dieser Grundlage möglich, erklärt Hirsch. Sogar genetische Faktoren lassen sich sinnvoll einbeziehen: „Genetische Daten sind im Grunde Wahrscheinlichkeitsdaten“, erklärt Hirsch. „Warum sollte also eine KI-Diagnostik, die ebenfalls auf Wahrscheinlichkeiten basiert, nicht mit ihnen arbeiten?“ Das hieße, dass zwei Patienten mit den gleichen Symptomen unterschiedlich behandelt werden, wenn der DNA-Test ermittelt, dass die Grundwahrscheinlichkeit für eine bestimmte Erkrankung bei einem von ihnen erhöht ist.

In Entwicklungsländern, in denen Spezialisten sehr selten sind, könnte die KI-gestützte Diagnose helfen, Patienten mit komplexer Symptomatik bereits vom Allgemeinmediziner zu versorgen. Schon bei grundsätzlichen Untersuchungen, sind die Entwickler überzeugt, könnten KI-basierte Anwendungen einen Schritt zur medizinischen Grundversorgung leisten.

13.12.2019

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