„Gesunde Menschen müssen heil rauskommen“

Wann macht Früherkennung Sinn?

Bei der medizinischen Früherkennung wird die klinische Welt auf den Kopf gestellt: Statt anhand konkreter Symptome eine Krankheit aufzuspüren, wird eine Krankheit vorausgesetzt, für die es Betroffene zu finden gilt – Menschen also, die bestenfalls noch symptom- und beschwerdefrei sind. Während diese Vorgehensweise noch bis vor wenigen Jahren als medizinisches Wunderwerkzeug angepriesen wurde, ist der Umgang mit dem Thema heute weitaus behutsamer geworden.

Prof. Dr. Nikolaus Becker
Prof. Dr. Nikolaus Becker

Denn die alte Parole „Früherkennung schadet nie“ ist wiederlegt und der Nutzen einer Untersuchung bemisst sich maßgebliche an den vorhandenen Risiken. „Wenn man weiß, dass Risiken vorhanden sind, muss man sich natürlich die Frage stellen: Wie ist die Früherkennungsmaßnahme überhaupt zu bewerten und welche Daten müssen vorliegen, um festzustellen, ob der Nutzen die Inkaufnahme der Risiken rechtfertigt“, fasst Prof. Dr. Nikolaus Becker, Epidemiologe am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg, die Problematik zusammen. Mit Blick auf die aktuellen Debatten zu diesem Thema eine berechtigte Frage, der Prof. Becker auf dem diesjährigen Radiologie Kongress Ruhr in Bochum auf den Grund ging.

„Eine wesentliche Botschaft an die Radiologen lautet, dass bei der Früherkennung in Gruppen von Menschen nach einer Krankheit gefahndet wird, in denen zu etwa 99 Prozent die Krankheit nicht vorliegt, und an der über 90 Prozent auch niemals erkranken werden. Vor diesem Hintergrund sollte das Mindeste sein, was verlangt werden kann, dass diese Menschen heil aus einer Untersuchung raus kommen“, so Prof. Becker. Und das ist gerade die Schwierigkeit: Jede Untersuchung birgt ein Risiko. Beim Mammographie-Screening beispielsweise kann aufgrund einer virtuellen Rechnung ermittelt werden, wie viele Frauen potentiell ein strahlungsbedingtes Karzinom entwickeln. Welche Frauen betroffen sind, lässt sich allerdings nicht bestimmen. Ebenso wenig, bei welchen gesunden Menschen während der Darmspiegelung schwerwiegende Komplikationen auftreten. Laut Becker ebenfalls nicht zu unterschätzen sind „die falsch-positiven Befunde, die weitere risikobehaftete Untersuchungen nach sich ziehen und eine enorme mentale Belastung darstellen.“

Im Falle des Brust- und Darmkrebses überwiegt der Nutzen der frühzeitigen Entdeckung eines Karzinoms jedoch diesen potentiellen Risiken, weswegen die Früherkennungsmaßnahmen in nationale Screening-Programme aufgenommen wurden.

Auch Prof. Becker glaubt an die Zweckmäßigkeit von Früherkennungs-Programmen, vorausgesetzt, sie sind richtig aufgesetzt: der Nutzen muss wissenschaftlich belegt und das laufende Programm qualitätsgesichert sein. Allerdings ist es für Kliniker schwierig feststellen, ob eine Früherkennung etwas bringt oder nicht. Denn die üblicherweise in der Klinik sichtbaren Daten sind verzerrt. „Nehmen wir die Überlebenszeit: Was bedeutet eine Verlängerung der Überlebenszeit denn genau? Hat der Mensch wirklich beispielsweise zwei Jahre länger gelebt oder ist hier nicht nur der Diagnosezeitpunkt um zwei Jahre vorverlagert worden? Wer weiß denn, ob der Patient ohne Früherkennung nicht ebenso lange gelebt hätte und aufgrund der Früherkennung einfach nur zwei Jahre früher von seiner Erkrankung wusste und damit auch zwei Jahre lang als Krebspatient behandelt wurde?“

Antworten hierauf kann die Epidemiologie liefern, indem sie feststellt, ob tatsächlich weniger Menschen an einer Krankheit sterben, wenn sie früher erkannt wird. Im Falle des Neuroblastoms war dies beispielsweise nicht der Fall: Zwar konnten im Rahmen der Früherkennung viel mehr Fälle als in der Kontrollgruppe gefunden werden, die Sterblichkeit war jedoch identisch. „Hier ist noch ein weiterer nachteiliger Effekt der Früherkennung sehr gut sichtbar geworden, nämlich die Überdiagnose. Wir finden Krankheiten, die unter Umständen nie klinisch werden“, schließt Becker sein Plädoyer für eine differenzierte Herangehensweise an das Thema.
 

04.11.2010

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