Quelle: Dr. Heinz Voit-Höhne
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Schlaganfall: Warum der Umweg oft viel Zeit spart
„Time is brain“ ist nicht die ganze Wahrheit, die so häufig zitiert wird, wenn es um den Schlaganfall geht: In seinem Vortrag auf dem Bayerisch-Österreichischen Röntgenkongress erklärt Dr. Heinz Voit-Höhne, Facharzt für Radiologie in der Abteilung für Neuroradiologie am Klinikum Nürnberg Süd, warum Geschwindigkeit bei der Versorgung von Schlaganfallpatienten zwar wichtig, aber längst nicht alles ist und welche Möglichkeiten moderne neuro-interventionelle Verfahren bieten.
Bericht: Wolfgang Behrends
Für eine effektive Behandlung muss zunächst festgestellt werden, welches Hirnareal präzise betroffen ist. Das geschieht grundsätzlich mithilfe der Computertomographie. „In unserem Klinikum stellen wir per CT-Perfusion fest, welches Gefäß verschlossen ist“, erklärt Voit-Höhne. „Das gibt uns wichtige Hinweise, welche Areale bereits irreparabel geschädigt und welche noch zu retten sind.“ Ist das geklärt, kann die adäquate Therapie eingeleitet werden.
Eines der heute wirksamsten Verfahren, das Klinikern bei der Schlaganfall-Behandlung zur Verfügung steht, ist die mechanische Thrombektomie. Diese Technik ist seit 2015 etabliert und hat seitdem die alleinige Lysetherapie, die medikamentöse Auflösung von Thromben, weitgehend abgelöst – aus gutem Grund, findet der Radiologe: „Die Lysebehandlung mithilfe von Fibrinolytika funktioniert nur bei kleinen Gerinnseln; Thromben ab einer Größe von fünf Millimetern ist auf diesem Weg nicht mehr beizukommen.“ Nachdem mehrere großangelegte Studien der Thrombektomie deutlich bessere Outcomes bescheinigten, kommt das Verfahren inzwischen in den meisten spezialisierten Zentren zum Einsatz. Leitlinienbedingt wird allerdings parallel immer noch eine Lysetherapie eingeleitet.
Quelle: Dr. Heinz Voit-Höhne
Mehr Mut zum Risiko bei jüngeren Patienten
Bei der Thrombektomie wird über die Leiste ein Führungskatheter in das betroffene Hirngefäß geleitet, um das dort sitzende Blutgerinnsel mittels eines Stent-Retrievers herauszuziehen. Der Retreiver wird in das Gerinnsel eingeführt, erweitert sich dort und verbindet sich mit dem Thrombus. Derart verankert, wird der Stent-Retriever dann zusammen mit dem Thrombus aus dem Gefäß gezogen. Das funktioniert bis zum dritten Aufzweigungsgrad der Gefäße (M3) mit Durchmessern von etwa 1,5 mm. „Ein großer Teil der so behandelten Patienten kann dank dieses Verfahrens ohne oder nur mit sehr geringen Folgeschäden relativ zügig entlassen werden“, berichtet Voit-Höhne.
Kontraindikationen für die Thrombektomie gibt es nur an zwei Stellen: der Eingriff kann nicht durchgeführt werden bei Patienten, die viel zu spät in die Klinik eingeliefert werden, wobei auch hier sich das Zeitfenster nicht mehr nur an der Zeit, sondern vor allem an den noch zu rettenden Gehirnarealen orientiert. Sie kann außerdem nicht angewendet werden bei Schlaganfällen, die sich in den Gefäßbäumen der Peripherie ausgebreitet haben und die auf diesem Wege nicht erreichbar sind. Allerdings sind die Ausfälle bei der letzteren Patientengruppe zum Teil auch nicht mehr so gravierend.
Quelle: Dr. Heinz Voit-Höhne
Eine Thrombektomie ist immer auch eine Gratwanderung: Je feiner die Verästelungen im Gehirn sind, desto höher ist das Risiko, ein Gefäß ein- oder sogar abzureißen. Die Folge dieser mechanischen Beschädigung kann eine Gehirnblutung sein, die mehr Schaden anrichtet, als mit dem Eingriff behoben würde. Daraus ergibt sich eine Nutzen/Risiko-Abwägung, die für jeden Patienten neu getroffen werden muss: „Grundsätzlich geht man umso mutiger vor, je jünger ein Patient ist“, umreißt der Experte: „Bei einem 35-Jährigen versucht man immer, möglichst viel zu retten, weil der Verlust an Lebensqualität hier mehr Tragweite hat, wenn als Folge der Schädigung wichtige kognitive Funktionen wegfallen. Dagegen würde man einen Eingriff an der Peripherie des Gehirns bei einem 90-Jährigen nicht mehr vornehmen.“
Quelle: Dr. Heinz Voit-Höhne
Hauptsache schnell? Eine Milchmädchenrechnung
Fast noch wichtiger als die Art der Behandlung ist das Zeitfenster, in dem die Versorgung eines Schlaganfalls beginnt. Hier begehen manche Notärzte einen Denkfehler: „Der bekannte Satz ‚Time is brain‘ ist völlig richtig: Je schneller eine Behandlung erfolgt, desto weniger Schäden behält der Patient zurück“, betont der Experte. Und bei einem ausgeprägten Schlaganfall mit einem NIHSS von 10 oder höher ist die Thrombektomie inzwischen verpflichtend, da die Wahrscheinlichkeit eines Gefäßverschlusses extrem hoch ist. Viele kleinere Krankenhäuser führen dieses Verfahren jedoch gar nicht durch. Betroffene sollten also sofort – und ohne Umwege – in ein spezialisiertes Zentrum gefahren werden, plädiert Voit-Höhne. „Das gilt auch dann, wenn es nicht das nächstgelegene Haus ist.
Die längere Zeit beim Transport steht in keinem Verhältnis zur Verzögerung, wenn der Patient umverlegt werden muss. Zählt man alles zusammen, gehen dabei mindestens drei Stunden verloren. Dafür sollten die Notärzte und Rettungswagen-Fahrer sensibilisiert und entsprechend geschult werden.“ Vor allem in ländlichen Gegenden, in denen die Wege zur Klinik weit sein können, ist dieses Wissen entscheidend.
Quelle: Dr. Heinz Voit-Höhne
Einige Länder experimentieren bereits mit Computersystemen, die automatisch den optimalen Versorgungsweg für Schlaganfallpatienten berechnen. „Davon ist Deutschland noch weit entfernt“, so Voit-Höhne abschließend. „Hier wäre schon viel erreicht, wenn es eine differenziertere Klassifizierung der 270 Stroke Units gäbe – denn längst nicht alle diese Zentren können eine Thrombektomie durchführen.“
Profil:
Dr. Heinz Voit-Höhne ist Leitender Oberarzt in der Abteilung für Neuroradiologie im Klinikum Nürnberg Süd. Nach seinem Medizinstudium in Regensburg war er für ein Forschungsjahr an der University of California San Diego (UCSD), USA, bevor er seine Facharztausbildung zum Radiologen in der radiologischen Abteilung der Universitätsklinik Erlangen 2005-2009 absolvierte. Am Klinikum Nürnberg Süd ist Dr. Voit-Höhne seit 2015 tätig, seit diesem Jahr als Leitender Oberarzt der Neuroradiologie.
27.09.2019