robotic surgery system demonstration
Dr. Maximilian Kückelhaus demonstriert die Fähigkeiten des OP-Roboters und des robotischen Mikroskops.

Foto: HiE/Behrends

Artikel • Digitalisierung im OP

Roboter-Duo verschiebt die Grenzen der Mikrochirurgie

Der Operateur steuert per Roboter winzige Instrumente, während ein weiterer Roboter das Geschehen automatisch im Blick behält: Mit dieser neuartigen Kombination haben Chirurgen in Münster erstmals erfolgreich vollständig robotergestützte mikrochirurgische Eingriffe durchgeführt. Bei der Vorstellung des neuen Verfahrens in der Fachklinik Hornheide erklären die Experten, wie das Zusammenspiel beider Robotersysteme für besonders präzise Eingriffe sorgt.

Bericht: Wolfgang Behrends

Mit zwei kleinen Instrumenten steuert Dr. Maximilian Kückelhaus die Nadelhalter des OP-Roboters. Jeder Handgriff des Chirurgen wird genau beobachtet – nicht nur von den zahllosen Sensoren im Inneren der Manipulatoren in seiner Hand, sondern auch von einem robotergesteuerten Mikroskop, das über dem OP-Tisch installiert ist. Die Kombination dieser beiden Systeme ist in Deutschland bislang einzigartig und soll der Mikrochirurgie völlig neue Möglichkeiten eröffnen: „Das neue Operationsverfahren ermöglicht es uns, wesentlich feiner und präziser zu arbeiten als es mit konventionellen Operationstechniken möglich ist“, erklärt Kückelhaus. „Jede Bewegung des Chirurgen wird bis zu 20-fach herunterskaliert, während das natürliche Zittern der Hände komplett herausgefiltert wird. Die Instrumente sind am Ende der Führungsstangen mit Gelenken ausgestattet, was für größtmögliche Bewegungsfreiheit bei minimalinvasiven Eingriffen sorgt.“ 

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Das Vernähen feinster Gefäße (hier demonstriert an einem Modell zu Trainingszwecken) zeigt die erhöhte Präzision durch das Kombinieren der beiden Robotersysteme: So können Gefäße ab einem Durchmesser von 0,3 mm bearbeitet werden. Der Chirurg hat das Geschehen über ein Head Mounted Display (HMD) im Blick und kann die Kamera mit Kopfgesten steuern.

Foto: HiE/Behrends

Und damit hat der Leiter der Experimentellen Plastischen Chirurgie des Zentrums für Muskuloskelettale Medizin an der Universität Münster und Geschäftsführender Oberarzt der Abteilung für Plastische, Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie sowie Handchirurgie in Hornheide gerade einmal die Vorteile eines der beiden Robotersysteme beschrieben. Denn sein volles Potential entfaltet der OP-Roboter erst zusammen mit dem zugehörigen Mikroskop: Über eine Datenbrille kann der Operateur nicht nur das Geschehen aus nächster Nähe betrachten; der Blickwinkel der Hochleistungs-Kamera passt sich – gesteuert durch die Kopfbewegung des Chirurgen – automatisch an und fokussiert damit immer den gerade relevanten Bereich. Über spezielle Kopfgesten können außerdem Zusatzfunktionen des Roboters aufgerufen werden, ohne dass der Blick des Chirurgen vom Operationsfeld abgelenkt wird. 

Neuer Blick für die Feinheiten

Das neue Verfahren ist in Münster erst seit wenigen Monaten im Einsatz, die Fachklinik damit deutschlandweit Vorreiter in der vollständig robotergestützten Mikrochirurgie. „Wir können jetzt in operative Felder vordringen, in denen wir zuvor durch die menschliche Physis an Grenzen gestoßen sind“, erklärt Prof. Dr. Tobias Hirsch, der die Methode zusammen mit Kückelhaus entwickelt hat. Dazu zählen unter anderem die Lymphgefäße – hier hat es der Operateur mit Strukturen zu tun, die mit dem bloßen Auge kaum noch sichtbar sind, geschweige denn mit konventionellen OP-Mitteln behandelbar. Mit dem neuen Verfahren können nun Gefäße mit einem Durchmesser ab 0,3 mm vernäht werden. 

Diese zusätzliche Präzision kommt etwa bei der Behandlung von Lymphödemen zum Tragen, bei der Transplantation von Gewebe nach komplexen Unfällen oder Erkrankungen wie Brustkrebs. „Je kleiner die Gefäße sind, die wir zusammenfügen können, desto weniger Schaden richten wir am Gewebe an“, sagt Kückelhaus.

Wir können Entstellungen rückgängig machen und durch die Transplantation von Nerven und Sehnen die Funktion von Beinen wiederherstellen. Für alle diese Techniken ist es wichtig, dass wir immer feiner arbeiten können

Tobias Hirsch

Hirsch nennt ein praktisches Beispiel: „Wenn wir früher einen Muskel im Bein ersetzen wollten, mussten wir dafür einen ganzen Muskel aus dem Rücken verwenden, denn nur hier sind die Blutgefäße groß genug, um sie überhaupt vernähen zu können. Damit konnten wir den eigentlichen Defekt zwar beheben, aber der Patient konnte anschließend keine normalen Schuhe mehr tragen, weil der Muskel viel zu groß war.“ Das neue Verfahren ermöglicht die Verwendung deutlich kleinerer Muskeln, die sich harmonischer einpassen lassen. Auch rekonstruktive Eingriffe, etwa nach Brustkrebs, gelingen mit deutlich weniger Schäden am Gewebe und geringerer Narbenbildung. 

Die Vorteile sind dabei nicht nur ästhetischer Natur: „Patienten, bei denen wir vorher amputieren mussten, können nun ihr Bein behalten und werden nach dem Eingriff schneller wieder fit“, führt Hirsch aus, der die Sektion Plastische Chirurgie der Uniklinik Münster leitet und als Chefarzt der Abteilung für Plastische, Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie, Handchirurgie in Hornheide aktiv ist. „Wir können Entstellungen rückgängig machen und durch die Transplantation von Nerven und Sehnen die Funktion von Beinen wiederherstellen. Für alle diese Techniken ist es wichtig, dass wir immer feiner arbeiten können.“ Das neue Robotersystem ist bei diesen und vielen weiteren Eingriffen eine wichtige Hilfe, wie der Experte verdeutlicht: Etwa 200-300 der OPs, die jährlich am Standort durchgeführt werden, können durch die Unterstützung des Roboters profitieren. „Der Bedarf ist hoch“, fasst Hirsch zusammen.

Fokus auf Ergonomie entlastet Chirurgen

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Der Operateur kann mithilfe des neuen Systems nicht nur entkoppelt vom OP-Bereich arbeiten, sondern auch während des Eingriffs eine ergonomische Körperhaltung einnehmen. Damit wird einer der wichtigsten Belastungsfaktoren bei Chirurgen addressiert.

Foto: HiE/Behrends

Die Entwicklung des Robotersystems verlief für die Universität Münster, das Uniklinikum sowie die Fachklinik Hornheide über mehrere Jahre in enger Zusammenarbeit mit den Herstellern der beiden Systeme, Medical Microsystems (OP-Roboter) und BHS Technologies (Mikroskop). Dabei legten die Experten großen Wert auf Ergonomie: „Gerade in der Mikrochirurgie ist eine ergonomische Position für den Operateur enorm wichtig“, sagt Kückelhaus. Denn häufig erstrecken sich Eingriffe über mehrere Stunden – das Operieren in einer anstrengenden Position kann nicht nur zu Einbußen in der Konzentration und Leistungsfähigkeit des Chirurgen führen, sondern hat auch langfristige Folgen für das Personal: „Bis zu 80% der Operateure müssen aufgrund ergonomischer Probleme ihre Karriere frühzeitig beenden“, erörtert der Experte. Hirsch ergänzt: „In ersten Studien an den Systemen vor dem Einsatz im OP konnten wir bereits die positiven Auswirkungen auf die Operationsqualität und Ergonomie belegen.“ 

Das neue System bedeutet eine räumliche Entkopplung vom OP-Bereich, so dass nicht nur eine entspanntere Körperhaltung für den Chirurgen möglich ist, sondern perspektivisch auch das telemedizinische Hinzuschalten von Spezialisten aus der ganzen Welt. In den nächsten Monaten werden die Chirurgen im Rahmen weiterer Operationen Daten erheben, die für die wissenschaftliche Evaluation des Systems genutzt werden. Wichtige Fragestellungen dieser Studien sind vor allem eine stetige Verbesserung der Operationsqualität und der Ergonomie, blicken die Experten voraus.

30.08.2022

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