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Artikel • Neue Technologien, alte Grenzen?
Roboter-assistierte Chirurgie in Europa: Hightech zwischen Skalpell und Gesetzestext
Der Einsatz von Chirurgie-Robotern bietet vielfältige Möglichkeiten, doch in Europa kann die Technologie ihr Potenzial oft nicht voll entfalten. Warum erklärt Dr. med. Christoph Wandhöfer.
Ein Gastbeitrag von Dr. med. Christoph Wandhöfer, Medicaroid Europe
Roboter-assistierte Chirurgie gilt als eine der vielversprechendsten Entwicklungen der modernen Medizin. Sie ermöglicht präzise minimalinvasive Eingriffe, die für eine schnellere Genesung sorgen können. Ihr eigentliches Zukunftsversprechen geht jedoch weit darüber hinaus: Mit Technologien wie Telesurgery – also Fernoperationen durch erfahrene Chirurgen über große Distanzen – rückt eine flächendeckendere, spezialisierte Versorgung in greifbare Nähe.
Trotz wachsender technischer Reife stößt diese Vision in Europa noch auf praktische Hürden. Vor allem ethische und regulatorische Rahmenbedingungen, Zulassungsprozesse und nationale Unterschiede erschweren den Weg in den klinischen Alltag. Ein Beispiel ist das Assistenzsystem hinotori™ aus Japan: Es steht für das Spannungsfeld zwischen Fortschritt und rechtlicher Sicherheit in einem hochsensiblen Bereich.
Das regulatorische Nadelöhr: CE-Zertifizierung nach MDR
Bevor solche Systeme in Europa eingesetzt werden können, benötigen sie das CE-Kennzeichen gemäß der Medical Device Regulation (MDR). Diese seit 2017 geltende Verordnung zählt zu den weltweit strengsten Regelsystemen für Medizinprodukte. Sie teilt diese in verschiedene Risikoklassen ein; chirurgische Roboter fallen mit ihrer invasiven Nutzung in eine Kategorie, die besonders umfangreiche Nachweise zur technischen, klinischen und anwendungsspezifischen Sicherheit fordert.
Besonders wichtig ist der sogenannte „intended use“ – also der genaue medizinische Anwendungsbereich des Produkts. Der Hersteller muss angeben, ob das System etwa in der Gynäkologie, Urologie oder Allgemeinchirurgie eingesetzt werden soll – und spezifisch belegen, dass es dort auch sicher funktioniert. Dazu sind verschiedene Möglichkeiten gegeben, von Studien an Kadavern über klinische Studien bis zu Vergleichen mit international bereits etablierten Systemen.

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Doch die praktische Umsetzung gestaltet sich oft als anspruchsvoll. „Die aktuelle EU-MDR von 2017 ist ein über 170-seitiges Dokument mit zahlreichen Anhängen, die Anforderungen für alle Medizinprodukte formuliert. Jedoch verbleiben stets Fragen im Detail, erklärt Dr. Christoph Wandhöfer von Medicaroid Europe.
Ein Grund für diese Unklarheit: Das Verfahren beginnt mit der Auswahl einer „Benannten Stelle“ wie TÜV Nord oder TÜV Süd, die das Produkt zertifiziert. Die Zahl der Notified Bodies wurde nach Aufhebung der bisherigen Regulationsrichtlinien, dem MDD, und der Etablierung der EU-MDR, stark reduziert; die Verbliebenen müssen sich selbst umorientieren und an die deutlich gestiegenen Anforderungen an die technische Dokumentation anpassen. „In der Konsequenz verläuft der Zertifizierungsprozess in Schleifen: Man reicht Unterlagen ein, erhält Rückfragen, und es ergeben sich Anpassungen und Korrekturen bis die Vorgaben der benannten Stelle abschließend erfüllt sind,“ sagt Dr. Wandhöfer. Zudem müssen viele Produkte, die unter der alten Richtlinie bereits zugelassen waren, neu zertifiziert werden. All das führt zu Engpässen und teils langen Wartezeiten. Eine zeitliche Prognose ist schwierig – das Verfahren kann sechs Monate oder auch anderthalb Jahre in Anspruch nehmen.
Wenn Innovation keinen Abrechnungscode hat
Ein weiteres Hindernis auf dem Weg in die breite klinische Anwendung ist eine fehlende wirtschaftliche Integration. In Deutschland können roboter-assistierte Eingriffe derzeit nicht finanziell abgebildet werden – unabhängig vom Mehrwert für Patienten oder vom Aufwand für Krankenhäuser. Dem stehen hohe Investitions-, Organisations- und Schulungsaufwände gegenüber.
Länder wie Polen haben bereits erste Erstattungsmodelle eingeführt, um gezielt Anreize für moderne Technik zu setzen. Sie könnten auch anderen Ländern als Orientierung dienen – insbesondere, wenn robotische Eingriffe langfristig helfen sollen, Komplikationen zu reduzieren und Krankenhausaufenthalte zu verkürzen. „Gefragt sind einheitliche Regelungen über Landesgrenzen hinweg,“ meint Dr. Wandhöfer.
Fernoperationen: Regulatorische Fallstricke
Dieser organisatorische, rechtliche und ethische Flickenteppich erschwert auch die Umsetzung eines der aufregendsten und medienwirksamsten Potenziale chirurgischer Roboter: die Fernchirurgie.
Die Idee, medizinische Exzellenz unabhängig vom Standort verfügbar zu machen, ist so alt wie die Robotik selbst. Besonders das US-Militär investierte schon vor Jahrzehnten in die Erarbeitung einer chirurgischen Versorgung im Kriegsgebiet – die Idee der robotischen Chirurgie war geboren.
Es fehlen klare Regelungen für die Versorgung im Operationssaal, wer für Netzwerkausfälle haftet, wie Backups organisiert werden müssen und welche Mindeststandards gelten
Christoph Wandhöfer
Heute, mit 5G und bald 6G, ist technisch vieles machbar, und Länder wie China haben bereits Erfahrungen mit Fernoperationen gesammelt – oft mithilfe gezielter staatlicher Unterstützung und speziell ausgebauter Netzwerkinfrastruktur.
In Europa dagegen bleibt Telesugery vorerst Zukunftsmusik: es fehlen klare rechtliche Leitplanken. „Es gibt keinen einheitlichen Rechtsrahmen, der grenzüberschreitende Fernoperationen erlaubt oder absichert“, sagt Dr. Wandhöfer. Aspekte wie Haftung, Datenschutz, medizinethische Standards und Zuständigkeiten im Notfall sind nicht abschließend geklärt.
Auch das Thema Cybersicherheit bleibt ein Unsicherheitsfaktor: „Man kann nicht einfach beim Telekommunikationsunternehmen eine stabile Leitung für eine Operation bestellen“, erklärt Dr. Wandhöfer. „Es fehlen klare Regelungen für die Versorgung im Operationssaal, wer für Netzwerkausfälle haftet, wie Backups organisiert werden müssen und welche Mindeststandards gelten.“ Viele dieser Aspekte müssten Teil eines nationalen und europäischen Regelwerks sein.
Fazit: Chancen erkennen, Hürden abbauen
Unabhängig vom Zukunftspotenzial der Fernoperation bietet die roboter-assistierte Chirurgie schon jetzt konkrete Vorteile für Patienten und das Gesundheitssystem – durch präzisere Eingriffe, kürzere Krankenhausaufenthalte und potenziell weniger Komplikationen.
Die Hürden für einen flächendeckenden Einsatz bleiben jedoch hoch. In vielen europäischen Ländern stehen einer fehlenden finanziellen Integration hohe Investitions- und Instandhaltungskosten gegenüber. Und das trotz erster Finanzierungsmodelle der Hersteller, die die Anschaffung erleichtern sollen. Nur wenn diese strukturellen und finanziellen Hürden konsequent angegangen werden, können robotische Operationssysteme ihr volles Potenzial entfalten – und eine zentrale Rolle in einer zukunftsfähigen, effizienten und patientenorientierten Gesundheitsversorgung spielen.
03.06.2025