Artikel • Neuro- und Wirbelsäulenchirurgie
Perfektes Zusammenspiel: Roboter, Neuronavigation und VR-Brillen im vernetzten OP-Saal
Neurochirurgen müssen bei ihrer Arbeit oft Kompromisse eingehen, denn die meisten OP-Säle werden bei der Planung nicht auf die speziellen Anforderungen dieser Fachrichtung zugeschnitten. Am Universitätsklinikum (UK) Essen wurde nun ein hochmoderner OP-Saal eigens für die Neuro- und Wirbelsäulenchirurgie eröffnet, der auf Digitalisierung setzt und mit modernster Technik das Fachgebiet revolutionieren will.
Bericht: Sonja Buske
„Wir hatten schon länger geplant, eine intraoperative Bildgebung in unser OP-Setting einzubauen, jedoch gab es bisher noch kein Gerät auf dem Markt, das unseren Ansprüchen gerecht wurde“, berichtet Prof. Dr. Karsten Wrede, stellvertretender Direktor der Klinik für Neurochirurgie und Wirbelsäulenchirurgie am UK Essen. Bisher mussten sich die Ärzte in der Regel zwischen einem intraoperativen MRT und einem CT entscheiden. „Mit dem robotergestützten Angiographie-System Artis pheno von Siemens Healthineers gibt es nun ein Gerät, das CT-Bilder dank 3D-Aufnahmetechnik in herausragender Qualität anfertigt und mit dem man gleichzeitig Angiographien durchführen kann“, zeigt sich Wrede begeistert. „Somit hat man ein System, mit dem fast alle Operationen durchgeführt werden können, und das uns die Wahl zwischen CT oder MRT erspart.“
Umbau bei laufendem Betrieb
Um diese innovative Technik in dem OP-Saal installieren zu können, musste der Raum zunächst vergrößert werden. „Im laufenden Betrieb ein nicht ganz leichtes Unterfangen“, erinnert sich Wrede. Zudem mussten die Vorgaben der Firma umgesetzt werden, die Bleiverschalungen in den Wänden und ausreichend Sicherheitsabstände vorsahen. „Die Corona-Pandemie erwies sich hierbei ausnahmsweise als Vorteil, da wir die Anzahl der Operationen ohnehin reduzieren mussten und es nicht so sehr ins Gewicht fiel, dass wir einen OP-Saal für fünf Monate schließen mussten“, so Wrede. Parallel zum Röntgenroboter wurde zudem eine komplexe Neuronavigation sowie ein robotischer Halterarm der Firma Brainlab installiert. Nach fast drei Jahren Vorbereitungszeit war es dann kurz nach Ostern 2021 so weit, und die neuen Räumlichkeiten konnten in Betrieb genommen werden.
Kombination der Geräte ist einzigartig
„Jedes System für sich betrachtet ist nicht unbedingt etwas Besonderes, das gibt es in anderen Kliniken auch. Es ist die Kombination und die Vernetzung sowie die alleinige Ausrichtung auf die Neuro- und Wirbelsäulenchirurgie, die unseren OP-Saal in ganz Deutschland aktuell einzigartig macht“, freut sich Wrede. Er gibt jedoch auch zu, dass nicht bei jeder Operation die komplette Technik genutzt wird. „Bei der Behandlung eines Aneurysmas kommt tatsächlich das gesamte Setting zum Einsatz, bei einer Wirbelsäulenverschraubung ist das hingegen nicht notwendig“, erklärt der Chirurg. Er zeigt sich begeistert von den vielen Vorteilen der neuen vernetzten Robotereinheit.
„Früher hat man während einer Verschraubung der Wirbelsäule Röntgenbilder angefertigt, um den Sitz der Schrauben zu überprüfen. Dabei waren sowohl der Patient als auch die Mitarbeiter einer hohen Röntgenstrahlung ausgesetzt. Später arbeiteten wir mit einem 3D-Röntgengerät, doch das war sehr aufwändig. Jetzt können wir während der OP in nur zehn Sekunden ein 3D-Bild aufnehmen – ohne dass die Mitarbeiter im Saal sein müssen – und die Aufnahme direkt an die Navigationssoftware schicken, um dann mit dem Roboter die entsprechenden Stellen anzufahren.“ Bevor der Patient den OP-Saal verlässt, wird ein Abschlussbild gemacht, um den genauen Sitz der Schrauben zu kontrollieren. „Korrekturbedürftige Schraubenfehllagen können somit nicht mehr passieren“, so Wrede.
Bei Operationen am Gehirn spielt die Kombination von Neuronavigation und Ultraschall eine große Rolle. Ist zum Beispiel ein Tumor zur Hälfte entfernt, kann intraoperativ ein dreidimensionales Ultraschallbild aufgenommen werden, um den Tumorrest live im Patienten anzuzeigen. „Das geht deutlich schneller als mit einer zeitaufwendigen intraoperativen MRT-Untersuchung.“ Die Informationen aus dem Ultraschall sind zudem in das Mikroskop einspielbar. Das hat den Vorteil, dass der Operateur seinen Workflow nicht unterbrechen muss, um sich die Aufnahme auf einem Bildschirm anzuschauen.
Mit der VR-Brille die Anatomie verstehen
Mit Hilfe der VR-Brillen sehen sie die Gefäßbäume eines Patienten mitten im Raum vor sich schweben und müssen sich nicht erst vorstellen, wo das Aneurysma im Kopf genau lokalisiert ist. Sie sehen es einfach
Karsten Wrede
Von der Kontrolluntersuchung im OP-Saal profitieren auch Aneurysma-Patienten. Musste früher drei bis vier Tage nach der Operation eine Angiographie im Wachzustand durchgeführt werden, kann sie nun dank des neuen Systems noch bei geöffnetem Schädel stattfinden. Aneurysma-Reste werden somit sofort entdeckt und können direkt behandelt werden. Bei diesem Krankheitsbild kommt zudem noch eine weitere neue Technik zum Einsatz: VR-Brillen. Zwar sind sie noch nicht für den intraoperativen Gebrauch zugelassen, doch für die präoperative Planung liefern sie wertvolle Erkenntnisse. „Gerade für junge Ärzte ist es zu Beginn ihrer Laufbahn sehr schwierig, die komplizierte Anatomie von Gehirn und Rückenmark in Gänze zu verstehen“, weiß Wrede. „Deshalb sind unsere Assistenzärzte und Studierende so begeistert von dieser Technik, denn mit Hilfe der VR-Brillen sehen sie die Gefäßbäume eines Patienten mitten im Raum vor sich schweben und müssen sich nicht erst vorstellen, wo das Aneurysma im Kopf genau lokalisiert ist. Sie sehen es einfach.“ Wrede kann sich gut vorstellen, dass künftig keine starren Navigationsgeräte mehr genutzt werden, sondern mit VR-Brillen operiert wird, in die eine Navigation eingebaut ist.
Bei allen Vorteilen darf jedoch nicht vergessen werden, dass so eine komplexe Installation eine längere Einarbeitungszeit und ein sehr gut eingespieltes Team erfordert. „Wir wurden eine ganze Woche lang geschult, haben aber trotzdem nur an der Oberfläche gekratzt“, gibt Wrede zu. „In keiner Bedienungsanleitung steht, wie ich einen Patienten für eine bestimmte Operation am besten lagere. Das lernt man nur durch Ausprobieren. Es reicht auch nicht aus, wenn nur einige wenige Ärzte die Technik beherrschen. Das ganze Team muss eingearbeitet sein und das dauert seine Zeit“, gibt er zu bedenken. Dennoch ist er davon überzeugt, dass das Konzept des UK Essen Schule machen wird. „Diese Technik – insbesondere VR und AR – wird die Medizin revolutionieren.“
Profil:
Prof. Dr. Karsten Wrede ist seit 2019 stellvertretender Direktor der Klinik für Neurochirurgie und Wirbelsäulenchirurgie am Universitätsklinikum (UK) Essen. Der 45-Jährige hat in Greifswald und Ulm Medizin studiert und zuvor eine Ausbildung zum Rettungssanitäter absolviert. Nach Stationen in der Schweiz, den USA und in China kam er 2009 als Assistenzarzt ans UK Essen, wo er 2013 die Position eines Oberarztes und 2018 des leitenden Oberarztes übernahm. Seine Schwerpunkte liegen in der vaskulären Neurochirurgie, der Schädelbasischirurgie und der zerebralen und spinalen Tumorchirurgie.
12.10.2021