Auf dem Europäischen Gesundheitskongress München berieten Experten über Status Quo und die Zukunft des deutschen Gesundheitswesens. Dabei fiel auch Kritik an einigen Strukturen.

Credit: WISO/Wolf

News • Kritik beim Kongress

Innovationsfeindliche Strukturen im Gesundheitswesen?

Hochrangige Fachleute haben auf dem Europäischen Gesundheitskongress München kritisiert, dass die Strukturen des deutschen Gesundheitswesens Innovationen behindern.

Andreas Storm, Chef der drittgrößten deutschen Krankenkasse DAK, hob hervor, dass Deutschland im Vergleich mit anderen Ländern „extrem langsam voran“ käme: „Wir sind jetzt langsamer als die staatlichen Gesundheitssysteme. Und wir sind auch wesentlich langsamer als die marktorientierten Länder wie etwa die Vereinigten Staaten von Amerika.“ Als Ursachen nannte Storm Probleme, die sich aus dem Föderalismus ergeben, aber auch die Selbstverwaltung, die zwar „ein großer Erfolgsfaktor für unser Gesundheitswesen“ sei, die aber dazu führe, dass es komplizierter als in anderen Ländern sei. Schließlich gebe es mit der Aufteilung in Sektoren eine im internationalen Vergleich „extreme Versäulung“. Das führe gerade im Zeitalter der Digitalisierung oftmals dazu, dass „wir in den Abstimmungsprozessen einen Konsens erreicht haben, wenn die technologischen Möglichkeiten schon wieder veraltet sind.“

Als ein weiteres Beispiel nannte Storm die diagnosebezogenen Fallpauschalen, die „massiv korrekturbedürftig“ seien. Die Idee sei, dass es „für eine richtige Behandlungsweise einen Geldbetrag“ gebe. Vor dem Hintergrund der Fortschritte in der personalisierten Medizin mahnte Storm: „Wenn es stimmt, dass ich bei einer bestimmten Diagnose nicht die eine Lösung von der Stange anbieten kann, sondern in der individualisierten Medizin sehr viel individuellere Lösungen brauche, dann ist dieser Ansatz, den wir da heute fahren, eigentlich auf Dauer ad absurdum geführt.“

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"Strukturelle Veränderungen sind notwendig"

Die Deutsche Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN) begrüßt in ihrer aktuellen Stellungnahme die kritische Diskussion um eine Neuordnung der Deutschen Krankenhauslandschaft, die durch die aktuelle Bertelsmann-Studie ausgelöst wurde. Nach Ansicht der Fachgesellschaft ist es auch aufgrund des Personalmangels dringend notwendig, insbesondere in Ballungsräumen…

Die fehlende Interoperabilität führt dazu, dass wir ganz große Schwierigkeiten haben, longitudinale Datensätze für den Patienten zur Verfügung zu haben, die man für eine personalisierte, optimierte Medizin benötigt

Stefan Schaller

Der Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft Gerald Gaß monierte detaillierte, aber unflexible Vorgaben: „Wir haben permanent mehr Regulierungen im System, die dazu führen, dass wir nicht mehr wissen, ob innovative Versorgungsangebote, auf die wir uns ausgerichtet haben, in den kommenden Jahren für einzelne Standorte überhaupt noch leistbar sein werden.“ Das führe dazu, dass heute viele Manager in den Krankenhäusern zurückhaltend im Hinblick auf Investitionen und Innovationen seien. Auch Gaß sieht im Hinblick auf individualisierte Medizin die Fallpauschalen als Problem: „Es ist eben nicht so, dass ein Patient mit einer bestimmten Diagnose genau die gleiche Therapie braucht wie ein anderer Patient mit der gleichen Diagnose. Es gibt große Unterschiede.“ Gaß sieht deshalb die Notwendigkeit zu grundlegenden Reformen: „Man muss sich jetzt wirklich mal über das System Gedanken machen und es auch zu Ende denken – und nicht nur hier mal was verändern und da mal was verändern.“

Stefan Schaller, Deutschland-Chef von Siemens Healthcare, betonte zunächst die Vorteile von freier Arzt- und Kassenwahl in Deutschland, fügte aber hinzu: „Wir bezahlen für diese Fragmentierung der Landschaft auch einen Preis.“ Als Konsequenz gebe es auch viele verschiedene technische Standards in digitalen Systemen, die nicht miteinander kompatibel seien und keine Daten austauschen können. Schaller erläuterte, dass daher diagnostische Daten für einen Patienten über längere Zeit kaum zur Verfügung stünden: „Die fehlende Interoperabilität führt dazu, dass wir ganz große Schwierigkeiten haben, longitudinale Datensätze für den Patienten zur Verfügung  zu haben, die man für eine personalisierte, optimierte Medizin benötigt. Da haben wir große Schwierigkeiten im internationalen Vergleich. Wenn man nach Skandinavien schaut oder nach England, dort sind die Daten viel besser verfügbar.“

Der aus Kroatien stammende Genetiker Dragan Primorac verglich in einer Präsentation die Rahmenbedingungen für die Entwicklung neuer Behandlungsmethoden, wie Molekulare Bildgebung, Gentherapie, Immuntherapie und Regenerative Medizin. Primorac zufolge ist in den USA die Chance, dass eine Neuentwicklung mit Risikokapital ausgestattet wird, neunmal so hoch wie in der EU. Hingegen liegt die Wahrscheinlichkeit, dass Unternehmen sich Innovationen durch die Übernahme kleinerer Firmen sichern, statt selbst zu entwickeln, in Europa doppelt so hoch wie in den USA.

Der Europäische Gesundheitskongress ging am späten Freitagnachmittag nach zwei Tagen engagierter Diskussion gesundheitspolitischer Zukunftsfragen zu Ende. Mehr als 1.000 Teilnehmer trafen in München zusammen und erörterten Themen wie Fortschritte in der Onkologie, Krankenhausplanung, Förderung von Rehabilitation und Prävention, Konsequenzen künstlicher Intelligenz und Robotik für das Gesundheitswesen, Patientensicherheit, Pflegemangel, hausärztliche Versorgung der Zukunft und Krankenhaushygiene.

Der nächste Europäische Gesundheitskongress München findet am 26. und 27. Oktober 2020 statt.


Quelle: Europäischer Gesundheitskongress

30.09.2019

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