Impfstatus und Erkrankung dürfen bei Priorisierungen keine Rolle spielen

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Artikel • Intensivmedizin

Impfstatus und Erkrankung dürfen bei Priorisierungen keine Rolle spielen

Die steigenden Covid-19-Infektionen haben die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) dazu veranlasst, ihre im März 2020 erstmals veröffentlichten klinisch-ethischen Empfehlungen zur Entscheidung über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der Pandemie zu überarbeiten. Die heute veröffentlichte Vorabversion wurde um die Punkte Impfstatus und Gleichbehandlung ergänzt.

Report: Sonja Buske

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Prof. Dr. Uwe Janssens
Quelle: Mike Auerbach

„Trotz Impfangebot sind wir in Deutschland mit einer zu niedrigen Impfquote konfrontiert. Die hoch ansteckende Delta-Variante breitet sich zudem weiter aus und der Verlust vieler Pflegekräfte sorgt für Personalmangel in den Krankenhäusern. Wir Mediziner warnen daher schon lange, dass es zu einer Triage-Situation kommen kann. Deshalb haben wir es als zwingend notwendig angesehen, die Empfehlung zu ergänzen“, erklärt Prof. Dr. Uwe Janssens, Past Präsident der DIVI und Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin des St.-Antonius-Hospitals Eschweiler. Janssens und seine Kollegen mahnen zwar seit Wochen an, dass die Aussetzung geplanter Operationen eine Gefahr und Belastung für viele Patienten darstelle, er fordert aber nun, da die Situation eingetroffen ist, dazu auf, dass alle Krankenhäuser in Deutschland frei gewordene Kapazitäten auf Kliniken verteilen sollen, die gerade von einer Überbelegung auf den Intensivstationen betroffen sind. Personal solle in den betroffenen Kliniken aushelfen und Patienten in andere Häuser verlegt werden.

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Prof. Dr. Georg Marckmann
Quelle: Ives Krier

Die Frage, ob Geimpfte Ungeimpften bei der Behandlung vorgezogen werden sollten, wird aktuell heiß diskutiert. Die Meinung der Experten dazu ist klar und wurde nun in die Empfehlung mit aufgenommen: „Die ärztliche Hilfspflicht in lebensbedrohlichen Situationen gilt unabhängig davon, ob jemand geimpft ist oder nicht. Wir sind Retter und keine Richter“, macht Prof. Dr. Georg Marckmann, Vorstand des Instituts für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin der Universität München, deutlich. „Der Zugang zu medizinischen Leistungen wird nicht davon abhängig gemacht, ob jemand möglicherweise durch sein Verhalten die Situation selbst verschuldet hat. Aus dem gleichen Grund behandeln wir auch den Lungenkrebs eines Kettenrauchers und die koronare Herzerkrankung eines Übergewichtigen.“ Das Kriterium des Impfstatus ist somit kein Kriterium für die Priorisierung. Lässt sich eine Priorisierung nicht mehr vermeiden, zählt einzig die klinische Erfolgsaussicht als Kriterium.

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Prof. Dr. Jan Schildmann

Die zweite Ergänzung in der Empfehlung bezieht sich auf die Gleichbehandlung von Covid-19-Patienten und Patienten mit anderen Erkrankungen. Die Einschränkung des Regelbetriebs soll freie Kapazitäten für alle Menschen ermöglichen, die einen dringenden Bedarf an medizinischen Maßnahmen haben. „Die Verschiebung von Operationen ist unproblematisch, wenn sich daraus keine großen Nachteile für den Patienten ergeben“, sagt Prof. Dr. Jan Schildmann, Internist und Leiter des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Halle. Dauert eine Pandemie jedoch – wie im aktuellen Fall – länger an, muss ein zweites Kriterium berücksichtigt werden: die ethische Abwägung. „Wenn die Erkrankung eines Patienten zwar nicht unmittelbar lebensbedrohlich ist, eine Verschiebung seiner Behandlung aber auf lange Sicht eine höhere Sterblichkeit nach sich ziehen würde, muss das mit in Betracht gezogen werden.“

Janssens machte nochmal den Unterschied zwischen Triage und Priorisierung deutlich: „Der Begriff Triage wird eigentlich bei Massenunfällen verwendet, wo sehr schnell entschieden werden muss, wer behandelt wird. Bei langen Verweildauern auf der Intensivstation haben wir aber ganz andere Möglichkeiten, die Situation differenziert zu betrachten.“ Käme es zu einer Triage, würden in der ersten Gruppe alle akut lebensbedrohlich Erkrankten aufgenommen werden. Innerhalb dieser Gruppe käme es dann zu einer Priorisierung. „Ganz oben stehen dann diejenigen mit den besten Erfolgsaussichten“, so Janssens. Er appelliert an Patienten und Angehörige gleichermaßen, den Ärzten zu vertrauen. „Wir machen uns solche Entscheidungen ganz sicher nicht einfach, sondern beratschlagen jeden Tag aufs Neue, wem wir wie am besten helfen können. Dabei schauen wir nicht nur auf die Überlebenschance in diesem Moment, sondern auch in die Zukunft.“ In den Triage-Teams sitzen Ärzte, Pflegende und Ethiker. Dokumentationsbögen sollen den Fachkräften Punkte für die Entscheidung an die Hand geben und für Transparenz sorgen. Janssens: „Am Ende geht es immer um den individuellen Fall.“

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Wir können es uns nicht leisten, jeden Tag zuzuschauen, wie die Zahlen steigen, und weiter abzuwarten.

Uwe Janssens

Alle Beteiligten wiesen darauf hin, dass Geimpfte insgesamt immer eine deutlich bessere Prognose haben als Ungeimpfte. Selbst ein abklingender Impfstatus sorgt noch dafür, dass man nicht auf die Intensivstation kommt. Anders sieht das bei älteren Patienten mit Begleiterkrankungen aus, weshalb die Mediziner eindringlich dazu aufriefen, dass sich vulnerable Personen jetzt boostern lassen sollten.

Marckmann forderte die Politiker dazu auf, schnell Rechtssicherheit zu schaffen: „Ärzte, die derartige tragische Entscheidungen treffen müssen, brauchen Rückendeckung aus der Politik, damit sie nicht auch noch befürchten müssen, aufgrund ihrer Entscheidung in einen Rechtsstreit zu geraten.“

So weit will Janssens es gar nicht erst kommen lassen: „Niemand möchte triagieren. Wir wissen, was in wenigen Monaten passieren wird, wenn nicht jetzt Maßnahmen für ganz Deutschland getroffen werden, um die Welle zu brechen. Wir können es uns nicht leisten, jeden Tag zuzuschauen, wie die Zahlen steigen, und weiter abzuwarten.“ Er versichert, dass die Mediziner gewappnet sind, sollte es zu einer Triage-Situation kommen, doch seine Bitte in Richtung der Politiker ist eindringlich: „Es darf nicht so weit kommen, dass uns Ärzten diese Last aufgebürdet wird und wir genötigt sind, über Leben und Tod zu entscheiden.“

26.11.2021

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