Artikel • Intensivmedizin

COVID-19: Erfolgsaussicht, nicht Alter entscheiden über Verteilung von Ressourcen

Acht Fachgesellschaften haben klinisch-ethische Empfehlungen erarbeitet, die die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und der Intensivmedizin im Falle einer Knappheit regeln sollen.

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Professor Dr. Jan Schildmann, Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Die Ressourcen sind begrenzt, nicht alle Patienten können sie erhalten: Welcher Patient soll intensivmedizinisch behandelt werden? Welcher Patient soll palliativmedizinisch versorgt werden? Die erschütternden Berichte aus anderen Ländern zeigen, dass das dortige Personal Entscheidungen dieses Ausmaßes haben treffen müssen – zunächst ohne irgendeine Orientierung zu haben. 

Angesichts des Mangels an entsprechenden Empfehlungen zur Priorisierung in Deutschland haben Fachvertreter aus Notfall- und Intensivmedizin, Medizinethik, Recht und weiteren Disziplinen innerhalb eines kurzen Zeitraums ein entsprechendes Dokument formuliert. Diese Handlungsempfehlungen sollen den verantwortlichen Akteuren durch medizinisch und ethisch begründete Kriterien und Verfahrensweisen eine Entscheidungsgrundlage geben. 

Doch müssten solche Vorgaben nicht vom Gesetzgeber getroffen werden? Nicht zuletzt, um allen Beteiligten eine rechtlich sichere Grundlage zu geben? In seiner Stellungnahme verwies der Ethikrat darauf, dass der Staat nicht vorschreiben dürfe, welches Leben in einer Konfliktsituation vorrangig zu retten sei – und gab diese Aufgabe prompt an die Fachgesellschaften weiter. Diese bemängeln in ihrem Papier das Fehlen „von Empfehlungen in Deutschland durch hierfür legitimierte Institutionen“. 

Schildmann verweist darauf, dass viele Intensivmediziner einen großen Bedarf nach Orientierung hinsichtlich des rechtlichen Handlungsrahmens hätten. „Dies gilt insbesondere für die rechtlich kontrovers bewertete Triage unter Einbeziehung von Patienten, bei denen bereits intensivmedizinische Maßnahmen eingeleitet wurden.“

Zum Vergleich: In der Schweiz wurde eine entsprechende Stellungnahme nicht von einzelnen Fachgesellschaften, sondern von den Schweizer Akademien der Medizinischen Wissenschaften formuliert.

Die Entscheidungsgrundlagen

„Aus verfassungsrechtlichen Gründen dürfen Menschenleben nicht gegen Menschenleben abgewogen werden. Gleichzeitig müssen Behandlungsressourcen verantwortungsbewusst eingesetzt werden“, schreiben die Autoren. Sie verweisen darauf, dass die Empfehlungen auf den nach ihren Einschätzungen „am ehesten begründbaren ethischen Grundsätzen in einer tragischen Entscheidungssituation“ beruhen.

Demnach sollen die Entscheidungen über die Verteilung der Ressourcen möglichst nach dem Mehraugen-Prinzip unter Beteiligung von möglichst zwei intensivmedizinisch erfahrenen Ärzten, von möglichst einem Vertreter der Pflegenden und gegebenenfalls weiteren Fachvertretern erfolgen.

Kriterien für die Verteilung der zur Verfügung stehenden Ressourcen bestehen aus der Prüfung, „ob eine intensivmedizinische Therapie indiziert ist und ob diese unter Berücksichtigung der Erfolgsaussicht vom Patienten gewünscht wird. Dies bedeutet konkret, dass die höhere Überlebenswahrscheinlichkeit relevant für die Entscheidung ist“, erklärt Schildmann.

Alter und Vorerkrankungen keine legitimen Kriterien

Aus anderen Ländern wurde berichtet, dass das medizinische Personal eine Priorisierung der Ressourcen nach Alter vorgenommen hatte. Dies sieht die Empfehlung der Fachgesellschaften nicht vor. „Das kalendarische Alter und andere soziale Merkmale wurden aufgrund des Gleichheitsgrundsatzes als Priorisierungskriterien ausgeschlossen. Auch eine Diskriminierung aufgrund bestimmter Grunderkrankungen oder Behinderungen sind entsprechend der Empfehlungen nicht zulässig“, berichtet Schildmann.

Die Empfehlungen sehen aus Gründen der Gleichberechtigung vor, dass eine Auswahl unter allen Patienten erfolgen sollte, die eine Intensivbehandlung benötigen. Eine Auswahl erfolgt unabhängig davon, ob Patienten COVID-19-Infizierte, Schlaganfall-Patienten oder Unfallopfer sind und ob sie sich in der Notaufnahme, der Allgemeinstation oder der Intensivstation befinden.

Zudem spielen der Schweregrad der aktuellen Erkrankung sowie relevante Begleiterkrankungen eine wesentliche Rolle für die Einschätzung der Erfolgsaussicht. Die in den Empfehlungen genannten Krankheitszustände stellen keine Ausschlusskriterien dar, sondern sollen im Einzelfall hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Erfolgsaussicht der Therapie berücksichtigt werden.

Die Autoren haben auch Empfehlungen für den ambulanten Behandlungsbereich erarbeitet. Demnach sei notwendig, dass noch vor der Aufnahme auf die Intensivstation die Indikation und der Patientenwille - aktueller, vorausverfügter oder mutmaßlicher - geprüft werden. Maßgebliches Kriterium für eine unausweichliche Priorisierung bleibt die klinische Erfolgsaussicht der Intensivbehandlung – also die Wahrscheinlichkeit, dass der Patient die Intensivbehandlung überleben wird. Damit soll die Anzahl vermeidbarer Todesfälle durch die Ressourcenknappheit minimiert werden.

Information:

Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), die Deutsche Gesellschaft für Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA), die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI), die Deutsche Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN), die Deutsche Gesellschaft für Neurointensiv- und Notfallmedizin (DGNI), die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP), die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) und die Akademie für Ethik in der Medizin (AEM) haben eine aktualisierte Fassung der Handlungsempfehlungen in Form einer medizinischen S1-Leitlinie, die von einer Expertengruppe im informellen Konsens erarbeitet wurde, verabschiedet: https://www.divi.de/empfehlungen/publikationen/covid-19/1549-entscheidungen-ueber-die-zuteilung-intensivmedizinischer-ressourcen-im-kontext-der-covid-19-pandemie-klinisch-ethische-empfehlungen/file

Profil:
Seit 1. April 2018 ist Professor Dr. Jan Schildmann Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Zuvor war er als Professor für Medizinethik an der privaten Wilhelm Löhe Hochschule Fürth und als Facharzt für Innere Medizin am Universitätsklinikum München-Großhadern tätig. Nach der Beendigung seines Medizinstudiums 2001 schloss Schildmann ein postgraduales Studium „Medical Law and Ethics“ (Medizinrecht und Ethik) am renommierten King’s College in London ab.

24.04.2020

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