News • Präzisionsmedizin

Gute Zellen, schlechte Zellen

Wie lassen sich Krankheitszeichen in einer Zelle möglichst früh erkennen, um rasch mit einer geeigneten Behandlung dagegen zu steuern?

© Agnieszka Rybak-Wolf, MDC

Die Europäische Union investiert nun ein Jahr lang eine Million Euro in einen Plan für einen grundlegend neuen Ansatz, den steten Wandel der Zellen und ihre Beziehungen untereinander zu verstehen und damit die Grundlagen für die Präzisionsmedizin von morgen zu schaffen. Das Geld geht an das internationale LifeTime-Konsortium, das vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) in Berlin und dem Institut Curie in Paris gemeinsam koordiniert wird.

Maßgeblich an der Initiative beteiligt sind die beiden größten europäischen Forschungsorganisationen, die deutsche Helmholtz-Gemeinschaft und das französische Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS). Mehr als 120 Wissenschaftler an 53 Forschungsinstituten aus insgesamt 18 europäischen Ländern sowie 60 Unternehmen unterstützen LifeTime. Die Europäische Union wird gleichzeitig die Vorbereitung von fünf weiteren potenziellen Forschungsinitiativen unterstützen. Nach einem Jahr Förderung wird die EU entscheiden, ob und welche als großangelegte Forschungsinitiativen weitergeführt werden können.

Mehr Präzision für therapeutische Strategien

Wenn eine 58-jährige Patientin über typische Symptome eines Herzinfarktes klagt, gibt es im Moment nur eine Option für sie. Ihre Ärzte suchen mit einem Herzkatheter nach verschlossenen oder verengten Gefäßen und therapieren sie dann nach Lehrbuch. Das Vorgehen könnte in Zukunft anders aussehen: Die Ärzte entnehmen eine winzige Probe an der Stelle des Infarkts. Sie sequenzieren die RNA, die dort in einzelnen Zellen vom Erbgut abgelesen wird, und identifizieren so die Zellverbände, die sich entzünden und die Folgen des Infarkts entweder heilen oder zusätzlichen Schaden anrichten können. Entscheidend hierfür ist die Entwicklung von innovativen Technologien, die erlauben, nicht nur Zellpopulationen zu analysieren, sondern genau in einzelne Zellen zu schauen. Mithilfe der so gewonnenen Daten legen die Ärzte eine präzise therapeutische Strategie fest.

Eine solche Präzisionsmedizin kann man nicht erreichen, wenn man nur Daten zum menschlichen Verhalten aus tragbaren Kleincomputern, sogenannten Wearables, und Mobiltelefonen sammelt. Vielmehr erfordert sie das Wissen, wie sich die einzelnen Zellen in unserem Körper im Laufe der Zeit verändern. Denn Zellen sind keine starren Bausteine, sondern lebendige Einheiten, die einem permanenten Wandel unterliegen. Selbst wenn wir gesund sind, entwickeln und vermehren sie sich, formen sie gemeinsam mit unzähligen anderen Zellen Gewebe, erwerben neue Eigenschaften oder altern ständig. Eine Veränderung kann zur normalen Entwicklung gehören oder Grundstein einer Erkrankung sein. Insbesondere verändern sich Zellen im Verlauf des Krankheitsprozesses.

Ein Weg in die Zukunft: Einzelzell-Biologie, Organoide und KI

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Mithilfe von Mini-Organen – wie hier Hirn-Organoiden – kann man die Techniken der Einzelzellanalyse auch auf menschliche Gewebe anwenden. Forscherinnen und Forscher sehen so, wie menschliche Zellen im Verlauf des Lebens reifen, wie sich Gewebe regenerieren und welche Veränderungen zu Krankheiten führen.

© Agnieszka Rybak-Wolf, MDC

Die LifeTime-Forschungsteams kombinieren in ihrem Projekt neueste Technologien und treiben deren Entwicklung in Europa damit maßgeblich voran. In der Petrischale gezüchtete menschliche Mini-Organe, sogenannte Organoide, und weitere innovative Systeme, wie zum Beispiel die neuen Methoden der Einzelzell-Biologie, spielen dabei eine entscheidende Rolle. Die Organoide stammen aus den Stammzellen von Patienten und ermöglichen personalisierte Krankheitsmodelle. In Kombination mit der „Gen-Schere“ CRISPR und modernsten bildgebenden Verfahren wollen die Wissenschaftler mit diesen Modellen erforschen, wie Zellen gesund bleiben oder krank werden und wie die Zellen auf Arzneimittel reagieren.

Die Experimente – in Hochdurchsatzverfahren durchgeführt – erzeugen riesige Datenmengen. Zur Analyse sind deshalb Maschinelles Lernen und Künstliche Intelligenz notwendig. Die rechnergestützten Strategien erkennen Muster im Wandel der Zellen und sagen voraus, ob sich zum Beispiel der Beginn einer Krankheit abzeichnet oder wie die Krankheit verlaufen wird. Gemeinsam mit mathematischen Modellen, die erlauben die Vergangenheit der Zellen zu konstruieren, kann so der Weg von gesunder zu kranker Zelle sichtbar gemacht werden. Die Wissenschaftler fahnden zudem nach geeigneten Schaltstellen, um krankmachende Veränderungen rückgängig zu machen oder sogar gänzlich zu verhindern.

Diese interdisziplinäre und internationale Kooperation birgt das Potenzial, die Gesundheitsforschung und damit auch die medizinische Versorgung der Menschen auf ein neues Niveau zu heben

Otmar D. Wiestler

Der Vorschlag für diese bahnbrechende Initiative vereinigt nicht nur Forscher aus Biologie, Physik, Informatik, Mathematik und Medizin, sondern bindet auch Experten aus Disziplinen wie Sozialwissenschaft, Ethik und Ökonomie ein. Eine öffentliche Befragung wird die Anliegen der Bevölkerung bereits zu Beginn der Initiative erheben und ausloten, wie LifeTime den Bedürfnisse der Gesellschaft Europas gerecht werden kann. Es wird erwartet, dass LifeTime bedeutende Auswirkungen auf die Pharmaindustrie, Biotechnologie, die datenverarbeitende Industrie und weitere Sektoren haben und die Wettbewerbsfähigkeit Europas positiv beeinflussen wird.

Unterstützt wird der Vorschlag für die grenzüberschreitende Initiative bereits von mehr als 60 Unternehmen, von großen europäischen Forschungsorganisationen wie der Helmholtz-Gemeinschaft in Deutschland und dem Centre national de la recherche scientifique (CNRS) in Frankreich, dem Wellcome Trust in Großbritannien und der nationalen niederländischen Wissenschaftsorganisation (NWO), der Allianz EU-Life sowie einigen europäischen Wissenschaftsakademien. „LifeTime ist ein herausragendes Projekt europäischer Pioniere. Diese interdisziplinäre und internationale Kooperation birgt das Potenzial, die Gesundheitsforschung und damit auch die medizinische Versorgung der Menschen auf ein neues Niveau zu heben. Wir freuen uns deshalb sehr, dass die EU das LifeTime-Konsortium finanziert. LifeTime ist im besten Sinn Forschung für den Menschen“, sagt Otmar D. Wiestler, Präsident der Helmholtz-Gemeinschaft.

Eine europäische Vision

Das Konsortium wird von der EU zunächst für ein Jahr gefördert. In dieser Zeit entsteht ein detaillierter Plan für eine zehnjährige Forschungsinitiative. „Mit der Einzelzell-Biologie wollen wir verstehen, wie Krankheiten in einem Organismus Zelle für Zelle im Verlauf der Zeit entstehen. Dass die EU die Initiative jetzt unterstützt, ist eine großartige Nachricht für das MDC“, sagt Martin Lohse, Vorstandsvorsitzender des MDC.  „Es bestätigt uns darin, dass wir einen Schwerpunkt in einem besonders zukunftsträchtigen Forschungsfeld aufbauen, und in unserer Erwartung, dass dieses schnell Eingang in die klinische Medizin finden wird.“

„Das ist eine großartige Chance“, sagt Professor Nikolaus Rajewsky, der das Berlin Institute for Medical Systems Biology (BIMSB), ein Hotspot für Einzelzell-Analysen, am MDC leitet. Er ist einer der beiden Koordinatoren des Forschungskonsortiums. „Alle Mitglieder von LifeTime gehören zu den Besten ihrer jeweiligen Disziplin. Sie leisten Visionäres. Dieses Jahr werden wir nutzen, um die Zusammenarbeit im Netzwerk zu intensivieren.“ Als Auftakt findet am 6. und 7. Mai 2019 eine Konferenz in Berlin statt. Dort stellen die Mitglieder des Konsortiums die Initiative vor und werden darüber informieren, wie LifeTime die Wissenschaft und Medizin in Europa stärken will. 

Um welche Krankheiten es bei der LifeTime-Initiative gehen wird, steht noch nicht fest. Die Auswahl wird eine Priorität sein und wird eine Vielzahl von Faktoren berücksichtigen: „Das Schicksal der Bevölkerung Europas wird durch viele verschiedene Krankheiten bestimmt. Im ersten Jahr wollen wir unter anderem prüfen, für welche Krankheiten sich unsere Herangehensweise am besten eignet“, sagt Geneviève Almouzni, die Ko-Koordinatorin der Initiative, Forschungsdirektorin am CNRS und von 2013 bis 2018 Direktorin am Institut Curie in Paris. „Wir werden Bürgerinnen und Bürger, Ärztinnen und Ärzte sowie Politikerinnen und Politiker konsultieren. Wir gehen davon aus, dass Krebserkrankungen dazu gehören könnten, aber auch Herzerkrankungen, Leiden des Nervensystems, oder andere Krankheiten.“


Quelle: Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin

16.01.2019

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