Artikel • Timely-Studie

Bessere Versorgung nach Herzinfarkt durch KI-gestützte telemedizinische Plattform

Mehr als 1,8 Millionen Menschen erleiden jährlich in der EU einen Herzinfarkt als Folge der koronaren Herzkrankheit (KHK). Allein in Deutschland sind es 300.000. Der Weg zurück in den Alltag führt im besten Fall über eine stationäre Rehabilitation. Darüber hinaus erhalten die Patienten jedoch kaum Unterstützung, um ihre chronische Erkrankung durch einen gesunden Lebensstil positiv zu beeinflussen. Zusammen mit einem internationalen Team hat PD Dr. Boris Schmitz daher die Timely-Studie ins Leben gerufen. Ziel ist die Entwicklung einer patientenzentrierten Präventions- und Interventionsplattform, die die Kontinuität der Versorgung bei koronarer Herzkrankheit mithilfe von eHealth und künstlicher Intelligenz nach einer Rehabilitation unterstützen soll.

Artikel: Sonja Buske

portrait of boris schmitz
PD Dr. Boris Schmitz

Foto: privat

In einer Rehaklinik lernen die Patienten, wie sie ihr Leben umstellen sollten, um möglichst lange und ohne Reinfarkte mit der Erkrankung weiterleben zu können. Gesunde Ernährung, Sport und Stressreduzierung stehen ganz oben auf der Liste, doch scheitert es bei vielen an der Umsetzung, sobald der Alltag wieder eingekehrt ist. „Die ersten sechs Monate nach der Reha sind entscheidend“, weiß der Biologe und Sportwissenschaftler Schmitz. „Nur, wenn man in dieser Zeit seine Verhaltensweisen ändert, werden sie auch zur Gewohnheit und die Gesundheit verbessert sich langfristig.“  

Als leitender Wissenschaftler des Zentrums für Klinische Rehabilitation der Klinik Königsfeld war es Schmitz wichtig zu erfahren, wie sich die Krankheit der Patienten nach Abschluss der Behandlung weiterentwickelt, um auch nach dem Aufenthalt in der Klinik Einfluss auf den individuellen Gesundheitszustand nehmen zu können. „Grundsätzlich hat eHealth das Potenzial, den Patienten bei der Selbstversorgung zu unterstützen“, so Schmitz. „Doch selbst in Deutschland ist ein solches System nicht verfügbar.“ Mit der randomisierten, kontrollierten klinischen Studie möchte er beweisen, dass das kardiovaskuläre Risiko mit Hilfe der Timely-Plattform gesenkt und ein gesunder Lebensstil unterstützt werden kann. Dafür werden 360 Männer und Frauen, die sich nach diagnostizierter KHK einer myokardialen Revaskularisation unterzogen haben und im Rahmen einer kardiologischen Rehabilitation nachversorgt worden sind, an insgesamt drei Studienzentren in Deutschland, Spanien und den Niederlanden in die Studie eingeschlossen. 13 Partner aus Industrie, Wissenschaft und dem klinischen Umfeld sind an der Entwicklung der Plattform beteiligt.  

Ausstattung mit Wearables und App

Um die Plattform nicht am Patienten vorbei zu entwickeln, hat Schmitz die potentiellen Teilnehmer direkt zu Beginn der Reha in Form eines „Living Labs“ mit ins Boot geholt. „Wir haben die Betroffenen interviewt und nach ihren Wünschen und Bedürfnissen gefragt, haben mehrere Ansätze skizziert und unter anderem die Bedienungsfreundlichkeit der App getestet. Wichtig war uns, dass sich jeder damit identifizieren kann – unabhängig von Alter und technischen Vorkenntnissen.“ 

hand holding smartphone with health app
Herzstück der Studie ist die Timely-App.

Bildquelle: Timely-Projekt; Smartphone: Adobe Stock/denphumi; Mockup: HiE

Die Teilnehmer werden nach einer intensiven Untersuchung für sechs Monate mit verschiedenen Wearables ausgestattet. Neben einem tragbaren, kabellosen 3-Kanal-EKG bekommen sie zudem ein Blutdruckmesssystem, welches auch das „Gefäßalter“ messen kann sowie einen Activity Tracker, der Informationen über Stresslevel, Bewegung und Aktivitätskalorien liefert. Herzstück der Studie ist die Timely-App. In ihr finden die Teilnehmer alle Bereiche der Reha wie Ernährungstherapie, Stressbewältigung, Gewichtsreduktion und ein individuell angepasstes Sportprogramm wieder und können zudem ihre persönlichen Ziele festlegen. Mittels Nachrichten, Push-Meldungen oder im Austausch mit einem Chat-Bot erhalten sie regelmäßig positive Bestärkungen, um die Motivation zu fördern. Dank künstlicher Intelligenz ist es möglich, auch große Datenmengen effizient im Verlauf zu betrachten und dadurch frühzeitig Risiken zu erkennen. „Ein verändertes Bewegungsverhalten oder ein erhöhtes Stresslevel können Indikatoren dafür sein“, weiß Schmitz. „In solchen Fällen reagieren wir frühzeitig und unterstützen die Patienten, die mehr Hilfe benötigen.“

Digitales Dashboard

Der Zugriff auf alle Werte und auf das individuelle Risikoprofil der Patienten, welches automatisiert ausgewertet und interpretiert wird, erfolgt für Ärzte, Therapeuten und Case Manager über ein digitales Dashboard. Bei Auffälligkeiten – zum Beispiel wenn jemand längere Zeit nicht körperlich aktiv war – erfolgt der persönliche Anruf, um die Therapie anzupassen oder andere Hilfen zu vermitteln. Die Übertragung der Daten erfolgt automatisch über das Mobilfunknetz und über gesicherte Systeme in Deutschland, wie der Studienleiter betont. 

Eine intensive Nutzung über sechs Monate reicht aus, um die Inhalte zu verinnerlichen. Es gibt jedoch immer wieder Rückschläge im Leben, vielleicht berufliche Veränderungen oder andere Erkrankungen, die einen Wiedereinstieg nötig machen können

Boris Schmitz

Nach sechs und nach zwölf Monaten kehren die Studienteilnehmer in die Rehaeinrichtung für erneute umfangreiche Untersuchungen zurück. Der letzte Patient soll bis Mitte 2024 untersucht worden sein. Den primären Endpunkt der von der EU geförderten Studie bildet ein Biomarker-Score, der das Risiko für die Mortalität der nächsten zehn Jahre abbildet sowie ein Test zur Beurteilung der körperlichen Leistungsfähigkeit. Zudem werden Änderungen im Ernährungs- und Bewegungsverhalten analysiert. Schmitz wünscht sich, dass Patienten die App ein Leben lang nutzen können, und zwar immer dann, wenn der Bedarf da ist. „Eine intensive Nutzung über sechs Monate reicht aus, um die Inhalte zu verinnerlichen. Es gibt jedoch immer wieder Rückschläge im Leben, vielleicht berufliche Veränderungen oder andere Erkrankungen, die einen Wiedereinstieg nötig machen können. Meine Vision ist es, dass die App den Patienten in der Breite zur Verfügung gestellt werden kann – nicht nur zur Nachsorge, sondern vor allem auch zur Prävention.“ 


Profil: 

PD Dr. Boris Schmitz ist leitender Wissenschaftler an der Klinik Königsfeld, Zentrum für medizinische Rehabilitation. Der studierte und promovierte Biologe hat zudem im Fachgebiet Sportwissenschaften promoviert. Seine berufliche Laufbahn verbrachte er überwiegend in Münster, wo er als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Projekt- und Laborleiter sowie Privatdozent tätig war. Schmitz ist Mitglied der European Society of Cardiology (ESC), der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK) und als Gutachter für diverse Fachzeitschriften tätig. 

21.09.2023

Verwandte Artikel

Photo

Artikel • Start-up erhält Telemedizinpreis

Durch Auswertung von Smartwatch-Daten Schlaganfälle vermeiden

In Deutschland nutzen laut Statistischem Bundesamt mehr als 15 Millionen Menschen Smartwatches. Technisch sind die meisten dieser modernen Armbanduhren in der Lage, mit großer Genauigkeit EKGs…

Photo

News • Kardio-App

AI-basierte Lösungen für Vorhofflimmern und Schlaganfallprävention

Maisense, ein erfolgreiches taiwanesisches Startup, das sich der Schlaganfallprävention widmet, stellt seine neue AI-basierte Lösung vor, die durch die Früherkennung von Vorhofflimmern (AFib) das…

Photo

Artikel •

"Apps" und mobile Anwendungen sind auf dem Vormarsch im Gesundheitswesen

Apps machen das Leben leichter - auch im Gesundheitswesen. Dank der praktischen Smartphone-Anwendungen lässt sich beispielsweise bereits das Herzinfarktrisiko bestimmen.

Verwandte Produkte

Newsletter abonnieren