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Artikel • Projekt ‚Region der Lebensretter‘

App macht Mitmenschen zu Lebensrettern

Über 50.000 Menschen erleiden in Deutschland jährlich einen Herz-Kreislauf-Stillstand. Nur, wer innerhalb von drei bis fünf Minuten reanimiert wird, hat gute Chancen, ohne größere Einschränkungen zu überleben. Allerdings braucht der Rettungsdienst im Schnitt bis zu 15 Minuten, um den Patienten zu erreichen. Das app-basierte System ‚Region der Lebensretter‘ soll qualifizierte Ersthelfer in wenigen Minuten zum Notfall leiten, um die Überlebenschance der Betroffenen zu erhöhen.

Artikel: Sonja Buske

Portraitfoto von Professor Dr. Michael Müller
Professor Dr. Michael Müller

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Professor Dr. Michael Müller, 1. Vorsitzender des Vereins ‚Region der Lebensretter‘, ist seit 1989 im Rettungsdienst tätig und wurde schon oft zu einem Herz-Kreislauf-Stillstand gerufen. „Die Überlebensrate hat sich in den letzten Jahrzehnten kaum verbessert, obwohl die Medizin regelmäßig große Fortschritte macht“, weiß er zu berichten. Als er 2014 auf ein dänisches Start-up aufmerksam wurde, das Ersthelfer in der Nähe eines Notfalls ortet und zum Patienten schickt, wuchs in ihm daher der Wunsch, dieses Konzept auch in Deutschland zu etablieren. 

Drei Jahre lang führte er Gespräche mit dem Deutschen Roten Kreuz, den Maltesern und den Politikern in Freiburg, wo er als Chefarzt der Klinik für Anästhesiologie, Intensiv- und Notfallmedizin am St. Josefskrankenhaus tätig ist. Themen wie Datenschutz, Versicherung und Finanzierung erschwerten die Umsetzung. Bis das Innenministerium Baden-Württemberg 2018 auf die Idee aufmerksam wurde, und seine Unterstützung zusagte. „Allerdings nicht finanziell“, bedauert Müller. „Der Verein ist bis heute auf Spenden angewiesen.“

Durch das intelligente Zusammenspiel aller Komponenten des Systems könnten laut ‚Region der Lebensretter‘ jährlich zusätzlich 10.000 Leben in Deutschland gerettet werden. Bei einem Notruf über die 112 alarmiert die Leitstelle bei Verdacht auf einen Herz-Kreislauf-Stillstand den Alarmserver des app-basierten Systems, und es werden automatisch der Ort und die voraussichtliche Fahrtzeit des Rettungsdienstes übermittelt. Das System wählt dann vier Helfer aus, die sich in der Nähe befinden, und schickt ihnen eine Voranfrage auf ihr Smartphone. Wer den Einsatz annimmt, muss angeben, wie er den Notfall erreichen wird – zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit dem Auto. Auf Basis dieser Informationen schickt das System die zwei Helfer, die am schnellsten beim Patienten sein können, zur Beatmung und Herzdruckmassage. Der dritte wird zum nächstgelegenen öffentlichen Defibrillator navigiert, vorausgesetzt, er ist trotz des Umweges schneller als der Rettungsdienst. Falls nicht, wird er als zusätzliche Kraft ebenfalls zum Notfalleinsatz geschickt. Der vierte Helfer wird beauftragt, den Rettungsdienst einzuweisen. „Türen müssen geöffnet, Licht eingeschaltet oder Wege freigehalten werden“, weiß Müller. 

Schematische Dastellung der Technologie-Lösung ‚First AED‘
Schematische Dastellung der Technologie-Lösung ‚First AED‘

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Größtes System in Deutschland

Innerhalb von sechs Jahren hat sich das System zum größten in ganz Deutschland entwickelt und ist in 63 Gebietskörperschaften in Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Hessen und Nordrhein-Westfalen etabliert. „Die gemessene Eintreffzeit des ersten Helfers liegt bei unserem System im Durchschnitt unter vier Minuten. Ich kenne kein System, das schneller ist“, so der Gründer. 

Wir rekrutieren nur Ersthelfer, die mindestens eine Sanitätshelferausbildung vorweisen können, oder aber in einem Gesundheitsberuf tätig sind

Michael Müller

Drei europäische Länder haben laut Müller bereits ihr Interesse angemeldet, das System ebenfalls einzuführen. Zwar gibt es auch in anderen Ländern ähnliche Konzepte, diese weisen jedoch zwei wesentliche Unterschiede auf: „In Italien zum Beispiel darf sich jeder registrieren, unabhängig von seiner Qualifikation“, so Müller. „Das kam für uns nicht infrage. Wir rekrutieren nur Ersthelfer, die mindestens eine Sanitätshelferausbildung vorweisen können, oder aber in einem Gesundheitsberuf tätig sind.“ Der Grund liegt auf der Hand: „Erfahrene Retter sind bei Notfällen routinierter. Zudem ist die Konfrontation mit sterbenden Menschen sehr belastend, darauf sollte man vorbereitet sein“, ist Müller überzeugt. 

Des Weiteren war ihm wichtig, dass sich die Nutzer tatsächlich in der Nähe des Geschehens befinden, um nicht wertvolle Zeit zu verlieren. „Systeme, die eine SMS verschicken oder pauschal eine Gruppe von Helfern informieren, verfehlen das Ziel“, ist Müller überzeugt. „Nur über die Handyortung kann ich direkt die Menschen erreichen, die in kürzester Zeit am Einsatzort sein können.“ Deshalb funktioniert die ‚Region der Lebensretter‘ auch, wenn sich Nutzer nicht an ihrem Wohnort, sondern zum Beispiel im Urlaub befinden. Vorausgesetzt, die dortigen Leitstellen sind Partner des Vereins.

Studie zur Evidenz

Um zu belegen, dass die Überlebensrate durch den Einsatz des Systems steigt, führt Müller mit seinem Team seit dem 1.1.2024 eine prospektive Multicenter-Studie1 mit mindestens 2218 Patienten durch, die bis Ende 2025 läuft. Er hofft, dass sich bei entsprechend positiven Ergebnissen auch etwas an der Finanzierung ändert: „Theoretisch könnten die Kosten für unser System komplett von der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) getragen werden.“ 


Profil: 

Professor Dr. Michael Müller ist 1. Vorsitzender des Vereins ‚Region der Lebensretter‘ und Chefarzt der Klinik für Anästhesiologie, Intensiv- und Notfallmedizin am St. Josefskrankenhaus Freiburg. 


  1. Müller MP et al.: Out-of-Hospital cardiac arrest & SmartphonE RespOndErS trial (HEROES Trial): Methodology and study protocol of a pre-post-design trial of the effect of implementing a smartphone alerting system on survival in out-of-hospital cardiac arrest; Resuscitation Plus 2024

02.12.2024

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