Artikel • Gefäßintervention bei Tinnitus

Pulsatiles Ohrgeräusch: Transarterielle Embolisation bringt Erlösung

Ein dauerhaftes Sausen, Zischen, Rauschen oder gar Klingeln in den Ohren ist nicht nur lästig, sondern kann dazu führen, dass Betroffene keinen Schlaf mehr finden, sich quälen oder gar depressiv und suizidal werden. Doch einigen Patienten kann geholfen werden. Bestätigt die radiologische Untersuchung beim pulsatilen Tinnitus eine vaskuläre Ursache, kann dieser bereits nach nur einer Behandlung verschwinden.

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Dr. Hannes Nordmeyer

Bildquelle: radprax

Ohrgeräusche sind in der Regel subjektiv und werden nur vom Patienten selbst wahrgenommen. Einen pulsatilen Tinnitus hingegen kann der Arzt häufig mit einem Stethoskop abhören. Er ist meist auf eine Veränderung der Blutgefäße zurückzuführen. „Der auskultierbare ‚objektive Tinnitus‘ tritt meist synchron mit dem Herzschlag auf und verändert sich abhängig von der Atem- und Herzfrequenz“, erläutert Dr. Hannes Nordmeyer, Leitender Arzt für interventionelle Radiologie und Neuroradiologie bei radprax und Leiter der neurointerventionellen Abteilung der St. Lukas Klinik im Neurozentrum Solingen. „Betroffene Patienten nehmen ihn als ein permanentes und lautes rhythmisches Ohrrauschen wahr.“ Die gute Nachricht: Der pulsatile Tinnitus ist gut behandelbar. Rund jeder zehnte Tinnitus-Patient ist davon betroffen. Bei den über 65-Jährigen liegt die Prävalenz bei 15 Prozent.

Häufigste Ursache: Gefäßveränderungen im Schädel

Eine der häufigsten Ursachen eines pulsatilen Tinnitus ist eine durale arteriovenöse Fistel (AV-Fistel). Dabei handelt es sich um eine Kurzschlussverbindung zwischen einer Arterie und einem venösen Sinus in der Dura mater, der äußersten Hirnhaut. Normalerweise fließt das Blut aus den Arterien in die Kapillaren und dann in die Venen. Bei einer AV-Fistel strömt es unter Umgehung der Kapillaren direkt aus einer Arterie in eine Vene. Unter hohem Druck fließt viel Blut aus der Arterie in den sogenannten Sinus. Dies erzeugt ein Strömungsrauschen. Liegt die Fistel in der Nachbarschaft des Felsenbeins, leitet dieser pyramidenförmige Knochen das Geräusch weiter ans Innenohr. Das kann für die betroffene Person irritierend und auf Dauer gar zermürbend sein. „Dura-Fisteln können spontan auftreten, tendenziell in höherem Alter“, so die Erfahrungen von Nordmeyer. „Sie können aber auch als Folge einer Sinusthrombose, also einem Blutgerinnsel in den blutableitenden Strukturen des Gehirns, auftreten.“

Ebenso können Verengungen der hirnversorgenden Gefäße den Blutfluss behindern und pulssynchrone Ohrgeräusche hervorrufen. Liegen derartige Stenosen in der Nähe der Schädelbasis, nimmt das Innenohr den beschleunigten Blutstrom akustisch wahr. Aber auch Stenosen der Sinus sorgen für Störungen des Blutflusses und können einen pulsatilen Tinnitus erzeugen. Davon sind vor allem jüngere Menschen betroffen.

Ein weiterer Auslöser für die belastenden Ohrgeräusche können Glomustumore sein. Während der Glomus-tympanicum-Tumor im Mittelohr lokalisiert ist, liegt der Glomus-jugulare-Tumor oft sanduhrförmig an der Schädelbasis. Und da der Tumor besonders gefäßreich ist, führt das zu einem erhöhten Blutfluss in dieser Region, der wiederum Strömungsgeräusche erzeugt, die das Innenrohr wahrnimmt.

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MRT gibt diagnostische Sicherheit

Tinnitus-Patienten benötigen vor allem eine präzise Diagnose. Dabei ist die klinische Untersuchung immer der erste Schritt. Sind mit dem Stethoskop Geräusche hinter dem Ohr auskultierbar, besteht der Verdacht einer AV-Fistel. „Um das Vorliegen einer Gefäßveränderung zweifelsfrei bestätigen zu können, ist eine MRT-Untersuchung notwendig“, erklärt der Solinger Neuroradiologe. „Das bildgebende Verfahren der Time-of-Flight-Angiographie, auch TOF-MRA genannt, kann arteriell strömendes Blut im Untersuchungsvolumen so anregen, dass es einen starken Kontrast zum umgebenden Gewebe erhält. Die Blutgefäße mit schnell fließendem Blut werden daher signalreich dargestellt, die Umgebung hingegen nahezu schwarz. Venen sind in der Regel langsam fließend und werden daher in der TOF-MRA signalarm dargestellt. Weisen sie jedoch bedingt durch den Kurzschluss einen arteriellen Blutfluss auf, sind sie erkennbar. So lässt sich häufig bereits mittels dieses bildgebenden Verfahrens das Vorliegen einer AV-Fistel nachweisen.“

Eine wirkliche Erleichterung durch Embolisation

Obwohl kompliziert und teuer, setzen wir das Verfahren der transarteriellen Embolisation mit venösem Ballonremodelling mittlerweile als primäre Behandlung ein

Hannes Nordmeyer

Wie eine AV-Fistel behandelt werden kann, hängt vor allem von ihrer Größe und ihrer Lage ab. Grundsätzlich stehen drei Therapieverfahren zur Wahl: eine Operation, die Bestrahlungstherapie und die endovaskuläre Behandlung mittels Embolisation.

Ist die AV-Fistel anatomisch erreichbar, kann der Neurochirurg sie obliterieren und oft ein kuratives Ergebnis erzielen. Handelt es sich um eine kleine Fistelzone und eine Niedrigrisikokonstellation, kann diese auch der Radiotherapie zugeführt werden. Ein Vorteil dieser Technik besteht in der geringen Invasivität und der niedrigen Frühkomplikationsrate. Ihr Nachteil sind das verzögerte Ansprechen und die Langzeitfolgen der Bestrahlung. Es kann viele Monate dauern, bis es zu einer Obliteration der Gefäße kommt und die Durafistel sich verschließt.

Bei der endovaskulären Therapie wird die abnormale Verbindung zwischen der Arterie und der Vene verschlossen. Die Embolisation kann von arterieller oder von venöser Seite erfolgen. Häufig zum Einsatz kommt die transarterielle Embolisation mit Flüssigembolisaten wie Ethylen-Vinylalkohol-Copolymere (EVOH) oder Acrylate (NBCA). Dabei wird der Mikrokatheter unter Röntgenkontrolle in einen arteriellen Feeder navigiert und das Embolisat langsam injiziert, bis es zum Verschluss der Fistelzone kommt. Bei Fisteln an den großen venösen Blutleitern (Sinus) kann ein transvenös (über die Beinvene oder die Halsvene) vorgebrachter Ballonkatheter den Übertritt von Embolisat in die Vene verhindern und den retrograden Verschluss aller arteriellen Zuflüsse in der Sinuswand ermöglichen. Dieses sinuserhaltende Verfahren ermöglicht den Erhalt bzw. die Wiederherstellung einer normalen cerebral-venösen Drainage sowie eine hohe Sicherheit und Effektivität der Embolisation. Demgegenüber stellt das transvenöse Coiling ein zwar erprobtes, aber weniger effektives und grundsätzlich nicht sinuserhaltendes Verfahren dar, das nur zweitrangig zum Einsatz kommen sollte.

Fallbeschreibung (Klicken zum Vergrößern)

40-jähriger Patient mit lautem pulssynchronen Ohrgeräusch links. Symptombeginn vor etwa einem halben Jahr. Das laut zischende und fauchende Geräusch raubte ihm den Nachtschlaf und ließ ihn nahezu arbeitsunfähig werden. Er konnte nur noch in einer komplizierten Kopfhaltung in Seitenlage unter Kompression einer Arterie am Hinterkopf einschlafen. Nach kurzer Zeit wachte er stets wieder auf, da das Geräusch durch unwillkürliche Lageänderung im Schlaf wieder auftrat und ihn am erneuten Einschlafen hinderte. 

1: Katherangiografie der linken Halsschlagader (Arteria Carotis communis) mit Nachweis einer duralen Arterio-venösen Fistel am linken Sinus sigmoideus. 2 und 3: selektive Angiografie der einzelnen Äste der linken äußeren Halsschlagader (Arteria carotis externa mit Arteria occipitalis und Arteria meningea media), die jeweils über zahlreiche Äste, sogenannte Feeder, die Fistel am venösen Sinus speisen. 4: Inflation eines großlumigen Modellierballons im Sinus (gefüllt mit Kontrastmittel und daher schwarz abgebildet). 5 und 6: superselektive Darstellung der Fistel aus der mittleren Hirnhautarterie (A. meningea media) und transarteriellem Ausfüllen aller Fistelzuflüsse mit viskösem Embolisat. 7-9: Ende der Embolisation mit deflatiertem Modellierballon (Bild 7, weiß), unauffälligem Angiogramm mit Nachweis eines kompletten Fistelverschlusses (Bild 8) und Visualisierung der Embolisatverteilung im seitlichen Schädelröntgen (Bild 9). Bild 10: postinterventionelle CT des Schädels, die eine Verteilung des Embolisates in den arteriellen Zuflüssen unter Erhalt des Sinus zeigt.

„Obwohl kompliziert und teuer, setzen wir das Verfahren der transarteriellen Embolisation mit venösem Ballonremodelling mittlerweile als primäre Behandlung ein“, so Nordmeyer. „Das Verfahren ist sehr sicher und sehr effektiv. In nur einer Behandlung kann es gelingen, die Fistel komplett zu verschließen, selbst wenn sie sehr ausgedehnt ist. Das pulsatile Ohrgeräusch ist in der Regel unmittelbar nach der Behandlung verschwunden. Das bedeutet eine große Erleichterung für die Patienten. Sie sind sehr dankbar und fühlen sich endlich erlöst.“



Frühe und späte Phase der Injektion eines viskösen Embolisates (EVOH) über die Arteria meningea media mit sukzessivem ante- und retrograden Verschluss aller Zuflüsse zur Fistel.

Stent-Angioplastie hilft auch bei Stenosen der Hirnarterien

„Eine seltenere und häufiger im höheren Alter auftretende Ursache pulssynchroner Ohrgeräusche stellen die Stenosen der Hirnarterien dar, die bei starker Strömungsbeschleunigung des Blutes und Nähe zu den knöchernen Strukturen des an der Schädelbasis beteiligten Felsenbeines eine Schallfortleitung ins Ohr verursachen können. In seltenen Fällen ist auch hier das an- und abschwellende Rauschen oder Zischen auskultierbar, häufig aber nur vom Patienten selbst wahrzunehmen. Die transarterielle Stent-Angioplastie schafft auch hier bei gesicherter Diagnose sofortige Heilung vom quälenden Symptom. Hierzu wird nach Sondierung des verengten Gefäßabschnittes ein Ballonkatheter zur Dehnung verwendet und in der Folge ein Stent implantiert, der den betroffen Gefäßabschnitt stabilisiert und offenhält. „Die Behandlungsindikation stellt bei diesen Patienten eine Besonderheit dar, da derartige Eingriffe an den Hirnarterien üblicherweise der Hirninfarktprophylaxe dienen“, so Nordmeyer. „Es ist insofern ein Segen, dass diese Techniken aus der Schlaganfalltherapie verfügbar und auch beim pulssynchronen Tinnitus einsetzbar sind.“


Profil:

Dr. Hannes Nordmeyer ist Leitender Arzt für interventionelle Radiologie und Neuroradiologie bei radprax und Leiter der neurointerventionellen Abteilung der St. Lukas Klinik Solingen, die von der DeGIR als Ausbildungszentrum für gefäßeröffnende und gefäßverschließende Verfahren der interventionellen Neuroradiologie zertifiziert ist. Zuvor war Nordmeyer als Oberarzt am Alfried-Krupp-Krankenhaus Essen tätig. An der Universität Witten/Herdecke folgt er darüber hinaus einem Lehrauftrag mit Schwerpunkt Neuroradiologie über den Lehrstuhl Prof. P. Haage am Helios Universitätsklinikum Wuppertal. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Embolisation von Gefäßveränderungen und in der mechanischen Rekanalisation beim akuten Schlaganfall sowie bei Stenosen der Hirnarterien. Nordmeyer ist DeGIR-zertifiziert (Stufe 2 der Module E & F) und verfügt über umfangreiche klinische Erfahrungen in der Neurologie und Neurochirurgie.

06.10.2021

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