Onkologen fordern EU-weit gleichen Zugang zu optimaler Krebsbehandlung
Der ungleiche Zugang zu einer optimalen Krebstherapie, den wir leider auch in der Europäischen Union beobachten können, hat ökonomische, soziale und gesundheitspolitische Ursachen und wirkt sich stark auf der medizinischen, menschlichen und statistischen Ebene aus – oft leider sehr dramatisch.
Dies sagte Dr. Peter Boyle (Direktor der International Agency for Research on Cancer, Lyon (F)) auf einer Pressekonferenz des Europäischen Krebskongresses ESMO 2012, bei dem in Wien mehr als 16.000 Fachleute aus mehr als 120 Ländern zusammenkommen. Auch sozialökonomische Unterschiede können sich „schockierend stark“ auf die Sterblichkeit von Krebstherapien auswirken, so Dr. Boyle.
„Ein wesentlicher Faktor ist natürlich, dass gute Krebstherapien in einem Land verfügbar und für die Patienten leistbar sind, also vom Gesundheitssystem bezahlt werden. Das betrifft Medikamente, aber auch moderne Diagnoseverfahren, die in der Früherkennung und in der Identifizierung der bestmöglichen Therapie eine zentrale Rolle spielen. Solche Diagnosegeräte sind sehr teuer und der Zugang zu solchen innovativen Diagnosemethoden kann ja nach Land und Region stark schwanken“, so Dr. Boyle. „Nicht zuletzt spielt die Existenz von auf bestimmte Krebsarten spezialisierten Zentren eine wichtige Rolle, die hochentwickelte Techniken der Krebschirurgie für spezielle Krebsarten gut beherrschen.“
ESMO-Präsidentin Prof. Piccart: Hürden auf dem Weg zu einer qualitätsvollen Krebstherapie verringern
„Die Europäische Gesellschaft für Medizinische Onkologie (ESMO) ist davon überzeugt, dass alles unternommen werden muss, um Hürden auf dem Weg zu einer qualitätsvollen Krebstherapie zu verringern“, so ESMO-Präsidentin Prof. Dr. Martine Piccart. Zu fordern seien geeigente Maßnahmen, um Europa-weit einen gleichen Zugang zu Diagnosemethoden sowie einheitliche Standards in der Therapie und Pflege von Krebspatienten zu schaffen und zu sichern, sagt Univ.-Prof. Dr. Christoph Zielinski (MedUni Wien, lokaler Veranstalter des ESMO 2012): „Krebspatienten haben ein unveräusserliches Recht auf einen raschen Zugang zu innovativen Medikamenten und eine insgesamt qualitätsvolle Krebsbehandlung.“
Onkologe Prof. Zielinski: Direkter Zugang zu innovativen Medikamenten rettet Leben und reduziert Krankheitslast und Kosten für die Gesellschaft
„Wir wissen aus zahlreichen Quellen, dass der Zugang zu einer optimalen Krebstherapie innerhalb der EU sehr unterschiedlich ist, häufig wegen nationaler Regelungen und Erstattungsverfahren und damit einhergehenden Verzögerungen bei der Verfügbarkeit von Medikamenten nach ihrer Zulassung durch die EU-Behörden“, sagt Prof. Zielinski. Das gilt nicht nur für Krebsmedikamente im engeren Sinne. Eine aktuelle Vergleichsstudie hat zum Beispiel gezeigt, dass Opioid-Schmerzmedikamente in einer Reihe von EU-Ländern kaum verfügbar sind. Prof. Zielinski: „Das verlangt nach Verbesserungen, weil Krebspatientinnen und –patienten hinsichtlich ihrer Krankheit und ihrer Schmerzen je nach Land unterschiedlich behandelt werden.“
Ungleicher Zugang zu Therapien und unterschiedliche Wartezeiten bis zur Bewilligung einer allfälligen Kostenübernahme für neue Medikamente haben Einfluss auf den Behandlungserfolg, auf die Überlebensrate von Krebspatienten und auf ihre Lebensqualität, sagt Prof. Zielinski: „Direkter Zugang zu innovativen Medikamenten kann das Leben von Patientinnen und Patienten retten und die Krankheitslast massgeblich verringern – und damit auch die Kosten für eine Gesellschaft.“
Ungleichen Zugangs zu Krebsmedikamenten in BRD und DDR hatte massive Auswirkung auf Überlebensrate
Ein Beispiel für die gesundheitlichen Auswirkungen eines ungleichen Zugangs zu Krebsmedikamenten: Als Mitte der 1970er Jahre eine neue Therapie von Hodenkrebs auf den Markt kam, kam es in Westeuropa sehr schnell zu einer Verringerung der Mortalität bei dieser Krankheit, die besonders häufig junge Männer betrifft. Nicht jedoch in den osteuropäischen Ländern, weil diese Therapie dort nicht zugänglich war. Dr. Boyle: „Das blieb etwa 15 Jahre unverändert. Erst als es 1990 zur deutschen Wiedervereinigung kam und diese Hodenkrebs-Therapie auch in den neuen deutschen Bundesländern verfügbar wurde, begann sich die Überlebensrate der Patienten dort jener der westdeutschen Patienten anzupassen und die Sterblichkeit begann zu sinken.“
Erst allmählich beginnt sich in Deutschland die Lebenserwartung der Bürger aus den östlichen Bundesländern der höheren Lebenserwartung der Bürger aus dem Westen anzupassen – woran die zunehmend höhere Krebs-Überlebensrate in den neuen Bundesländern natürlich ihren Anteil hat. Im Vergleich zu den Daten aus den Jahren 1992 bis 1994 verringerte sich der Unterschied zwischen Ost und West in der Lebenserwartung für Jungen von drei Jahren und einem Monat auf ein Jahr und vier Monate. Für Mädchen reduzierte sie sich von zwei Jahren auf zwei Monate.
Dr. Boyle: Wir brauchen mehr Studien über den Einfluss sozioökonomischer Unterschiede auf das Krebs-Überleben
Aufschlussreich ist es auch, den Einfluss sozioökonomischer Unterschiede auf das Krebs-Überleben innerhalb einzelner Regionen zu überprüfen. Das hat sich eine Studie aus Glasgow in den 1990er Jahren vorgenommen, bei der Behandlung und Outcome bei 4.500 Brustkrebspatientinnen analysiert wurde. Nachdem sämtliche Gesichtspunkte der Therapie und alle prognostischen Faktoren berücksichtigt worden waren, zeigte sich, dass zwei Frauen mit identischen Tumoren bezüglich prognostischer Faktoren und pathologischer Charakteristika, die auf gleiche Weise behandelt wurden, zehn Prozentpunkte Differenz beim Fünfjahres-Überleben aufwiesen, je nachdem ob ihr sozialökonomischer Level ganz oben oder ganz unten war. „Solche Unterschiede im Outcome sind schockierend“, so Dr. Boyle. „Sie zeigen dass wir Studien brauchen, die den Einfluss sozioökonomischer Faktoren auf das Überleben untersuchen, damit wir daraus Schlüsse für Prävention, Früherkennung, Behandlung und Therapie ziehen können.“
02.10.2012