Artikel • Videosprechstunde

„Das häusliche Umfeld muss zu einem mobilen Diagnostikzentrum werden“

Es gibt viele Gründe, warum der Besuch einer Arztpraxis für manche Menschen nicht oder nur schlecht möglich ist. Die eingeschränkte Beweglichkeit nach einer Operation, aufgrund des Alters oder aufgrund einer Behinderung zählt genauso dazu wie weite Anfahrtswege oder eine schlechte Infrastruktur, zum Beispiel in ländlichen Gegenden. Durch die Corona-Pandemie ist zudem der Infektionsschutz als wichtiger Punkt hinzugekommen. Die Videosprechstunde kann in solchen Fällen der rettende Anker sein.

Bericht: Sonja Buske

Das vom Land Nordrhein-Westfalen geförderte Zentrum für Telematik und Telemedizin (ZTG) informiert kostenlos Ärzte und weitere Versorgungsinstitutionen in NRW über die Videosprechstunde, hilft bei der Suche nach einem passenden, zertifizierten System und steht für technisch-organisatorische Fragestellungen zur Verfügung. „Die Videosprechstunde ist die Zukunft“, ist sich ZTG-Geschäftsführer Rainer Beckers sicher.

portrait of rainer beckers
ZTG-Geschäftsführer Rainer Beckers

„Bisher wurde die Videosprechstunde eher selten genutzt, obwohl sie schon seit Jahren im Vergütungskatalog abrechenbar ist. Seit dem Ausbruch von COVID-19 hat sich das deutlich geändert“, weiß Beckers. Inzwischen bekommt das ZTG sogar bundesweite Anfragen, die die Mitarbeiter auch gerne, so es die Kapazitäten hergeben, beantworten möchten. 31 zertifizierte Anbieter von Systemen für die Videosprechstunde sind bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) gelistet (Stand: 20. Mai 2020). 80.000 Nutzer weltweit und mehr als 33.000 in Deutschland verzeichnet allein die CompuGroup Medical SE (CGM) mit ihrem System Clickdoc. Das Unternehmen ist nach Angaben von Dr. Ralph Körfgen, CGM-Vorstand Arzt-, Zahnarzt- und Apothekeninformationssysteme, einer der führenden Anbieter von Videosprechstunden für das Gesundheitswesen in Deutschland und stellt sein Angebot seit März niedergelassenen Ärzten, Krankenhäusern, Hebammen und sozialen Einrichtungen während der Corona-Krise kostenlos zur Verfügung.

Seitdem im Jahr 2016/17 ein internationaler Standard für kombinierte Video- und Audioübertragung über Browser verabschiedet wurde, ist es möglich, Audio- und Videokonferenzen ohne zusätzliche Software umzusetzen. Bis dahin durfte man zwar mit seinem Arzt telefonieren, jedoch keine persönlichen Daten per Mail verschicken oder gar einen Videoanruf tätigen. „Die heutigen Verschlüsselungstechnologien erfüllen einen sehr hohen Sicherheitsstandard, sodass der Datenschutz gewährleistet ist“, erklärt Beckers.

Ein Patient nutzt die Videosprechstunde mit seinem Arzt
Ein Patient nutzt die Videosprechstunde mit seinem Arzt

© La-Well Systems GmbH

Der Ablauf ist simpel: Arzt und Patient vereinbaren einen Termin für eine Videosprechstunde. Der Patient bekommt dafür einen Code, den er bei der Einwahl eingeben muss. Diese ist sowohl über einen Computer als auch über ein Tablet und sogar über ein Smartphone möglich, eine zusätzliche Software ist nicht erforderlich. Der Patient gelangt nach der Einwahl in ein virtuelles Wartezimmer, bis der Arzt die Übertragung startet. Ein Missbrauch des Systems ist nahezu ausgeschlossen, da sich die Teilnehmer sehen und – in den meisten Fällen – kennen. Handelt es sich um einen neuen Patienten, muss sich dieser mit seiner elektronischen Gesundheitskarte identifizieren.

Die Videosprechstunde in Kombination mit Telemonitoring ist definitiv die Zukunft

Rainer Beckers

Natürlich hat die Videosprechstunde auch ihre Grenzen. Wird eine körperliche Befundung notwendig, um zum Beispiel eine Bronchitis von einer Lungenentzündung zu unterscheiden, muss der Patient doch den Weg in die Praxis suchen, denn das Abhören der Lunge über den Bildschirm ist eben (noch) nicht möglich. „Es liegt in der ärztlichen Verantwortung, diese Entscheidung zu fällen“, so Beckers. „Für alle anderen Erkrankungen oder Fragestellungen wie die Beurteilung von Wunden und Hautausschlägen oder Kontrolluntersuchungen nach Operationen ist die Videosprechstunde bestens geeignet. Auch die Übermittlung von Dokumenten oder Röntgenaufnahmen ist bereits problemlos möglich.“

Das Abhören der Lunge per Videokonferenz ist für Beckers gar nicht so unrealistisch, wie es zunächst klingt: „Das häusliche Umfeld muss zu einem mobilen Diagnostikzentrum werden. Dafür muss die Videosprechstunde unbedingt durch Telemonitoring ergänzt werden“, fordert der Experte. Über intelligente Blutdruck- oder mobile Ultraschallgeräte könnte der Arzt dann die Vitaldaten seiner Patienten bekommen. „Es ist alles nur eine Frage des Equipments, welches der Patient zu Hause hat“, meint Beckers. „Die Videosprechstunde in Kombination mit Telemonitoring ist definitiv die Zukunft.“


Profil:

Rainer Beckers ist Gesundheitswissenschaftler und Philosoph mit den fachlichen Schwerpunkten Gesundheitsökonomie und Computersimulation als wissenschaftliche Methode. Er ist seit 1989 im Gesundheitswesen tätig, unter anderem in der Forschung, bei Klinikträgern und Verbänden. Beckers wirkte schon früh an Konzepten zur einrichtungsübergreifenden elektronischen Patientenakte mit. Er wechselte 2000 zur damals neu gegründeten ZTG Zentrum für Telematik und Telemedizin GmbH, zu deren Geschäftsführer er im April 2009 bestellt wurde. Beckers ist seit Jahren Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Telemedizin (DGTelemed e. V.).

16.06.2020

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