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Artikel • Intensivmediziner gründen neue Sektion

Mit Digitaler Medizin mehr Leben retten

KI, Robotik, Präzisions- und Telemedizin: Der digitale Fortschritt des Gesundheitswesens zeigt sich in der Intensiv- und Notfallmedizin besonders deutlich. Doch die Einführung neuer Technik in den Versorgungsalltag ist kein Selbstläufer, an vielen Stellen geht es nur schleppend voran. Mit der Gründung der Sektion ‚Digitale Medizin‘ will sich deshalb die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) stärker einbringen. Prof. Dr. Gernot Marx, Vize-Präsident der DIVI und Sprecher der neuen Sektion, skizziert die Ziele der Gruppe und berichtet, wie mehr Digitalisierung in der Medizin das Potential hat, viele Menschenleben zu retten.

Artikel: Wolfgang Behrends

portrait of Gernot Marx
Prof. Dr. Gernot Marx

© DIVI/Daniel Carreño

Die Informationsdichte zum Zustand von Intensivpatienten ist mit bis zu 1000 Datenpunkten pro Stunde ausgesprochen hoch: Vom Blutdruck über Herzfrequenz, Beatmungsparameter bis hin zu detaillierten Labor- und Bildgebungswerten können Intensivmediziner aus einem wahren Datenschatz schöpfen, erklärt Marx: „Nun geht es aber darum, dieses detaillierte Wissen auch sinnvoll zu nutzen – für einen Menschen ist das aufgrund der schieren Datenmenge nicht machbar, hier muss eine künstliche Intelligenz ran.“ 

Ein Paradebeispiel für das Potenzial der Technologie ist für den Experten ein neues System zur Sepsis-Vorhersage bei Intensivpatienten: „Es ist uns gelungen, einen Algorithmus zu entwickeln, der auf Grundlage von 17 Standardparametern das Auftreten eines septischen Schocks vorhersagt – und das bereits zwölf Stunden vor Auftreten klinischer Anzeichen.1 Das ist ein immenser Zeitvorsprung, den wir Intensivmediziner nutzen können, um frühzeitig eine Therapie einzuleiten – etwa durch Gabe der richtigen Antibiotika oder Stabilisierung des Kreislaufs. Für die Patienten bedeutet das einen echten Überlebensvorteil, denn bei Sepsis geht es um jede Stunde.“ 

Überführung von der Forschung in den Versorgungsalltag

In Deutschland haben wir häufig das Problem bei digitalen Innovationen, dass Förderzeiträume irgendwann auslaufen und damit auch vielversprechende Projekte nicht weiterverfolgt werden, bevor sie den Schritt in die Regelversorgung schaffen

Gernot Marx

Die vielversprechende KI kam bislang allerdings nur in retrospektiven Studien zum Einsatz. Mit der neuen Sektion will sich die DIVI als Fachgesellschaft dafür stark machen, den Algorithmus auch prospektiv zum Einsatz zu bringen. „Für uns liegt die große Aufgabe darin, den Weg für wissenschaftliche Projekte zu ebnen, um den Schritt in den Versorgungsalltag zu schaffen“, fasst Marx als neuer Sektionssprecher zusammen. Das beinhalte zum einen das Definieren konkreter Ziele für die Translation, zum anderen gehe es auch um die Finanzierung der Projekte und das Schaffen gesetzlicher Rahmenbedingungen. „In Deutschland haben wir häufig das Problem bei digitalen Innovationen, dass Förderzeiträume irgendwann auslaufen und damit auch vielversprechende Projekte nicht weiterverfolgt werden, bevor sie den Schritt in die Regelversorgung schaffen. Das ist ein wichtiger Punkt, an dem wir ansetzen wollen – und müssen.“ 

Gelungen ist das etwa bei einer Initiative zur Unterstützung von Corona-Patienten: Im vergangenen Jahr hatte der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) die Finanzierung telemedizinischer Beratungen bei der Versorgung von Covid-Patienten sowie Konsiliarleistungen von Spezialkliniken beschlossen. „Das war ein großer Erfolg für die Intensivmedizin“, resümiert Marx – und sieht hier die Basis für weitere Vorstöße: „Wir haben die Evidenz, dass diese Maßnahmen nicht nur bei Covid-19 hilfreich sind, sondern auch bei vielen anderen kritisch erkrankten Patienten, beispielsweise bei einer Blutvergiftung. Das ist ein Ansatzpunkt, den wir aktuell mit der Politik diskutieren.“ 

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Covid-19: Wissen zu Intensivbehandlung besser verfügbar machen

Das vorhandene Expertenwissen bei der intensivmedizinischen Versorgung von Covid-19-Patienten soll dank digitaler Kooperationen künftig stärker von allgemeinen Krankenhäusern genutzt werden können. Dafür hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) die Voraussetzung für die Finanzierung telemedizinischer Beratungen bei der Versorgung von Corona-Kranken beschlossen.

Als weitere zentrale Aufgabe hat sich die DIVI die Etablierung übergreifender Standards vorgenommen. Insbesondere im digitalen Bereich sieht der Experte in Deutschland Luft nach oben, denn viele Kliniken arbeiten noch immer mit hauseigenen Standards. Bei Notfallpatienten kann dies im schlechtesten Fall dazu führen, dass bei der Überführung in eine andere Klinik wichtige Daten erneut erhoben werden müssen, obwohl sie bereits vorliegen – jedoch im falschen Format. „Gerade die Corona-Pandemie hat uns gezeigt, wie wichtig die Digitalisierung der Medizin ist“, betont Marx. Viele andere Länder seien hier schon deutlich weiter, etwa bei der Umsetzung der elektronischen Patientenakte. Dabei gehe es nicht einmal primär um digitale Vorreiter- und Vorzeigeländer wie Estland, so der Experte: „Aktuell zeigt sich das im Umgang mit Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine: Viele, die hier ankommen, sind überrascht, dass sie erstmal eine Reihe von Zetteln ausfüllen müssen.“ Denn in ihrer Heimat sei es eine Selbstverständlichkeit, dass alle relevanten Daten in einer Akte gesammelt sind, die den behandelnden Ärzten bei Bedarf direkt zur Verfügung steht.

Wegweisende Intensiv-Datenbank

Davon sei Deutschland noch ein ganzes Stück entfernt, resümiert Marx. Der Experte attestiert jedoch einige vielversprechende Ansätze. „Dass es dringenden Handlungsbedarf in Sachen Digitalisierung gibt, ist bereits seit geraumer Zeit bekannt. Und durch Corona hat diese Entwicklung noch einmal einen deutlichen Schub erfahren.“ Um diesen Trend zu bestärken, habe die DIVI den Aspekt der Digitalisierung in ihrer im November neu erschienenen Strukturempfehlung für Intensivstationen stärker aufgegriffen.2 „Dabei geht es um Dinge wie die Etablierung von Patientendaten-Management-Systemen (PDMS), die flächendeckend verfügbar sind und nach einheitlichen Standards funktionieren.“ In der Empfehlung sprechen sich die Experten zudem für automatisierte Dosis- und Sicherheitschecks sowie für intensivmedizinische digitale Netzwerke und Datenbanken aus. Eine solche Datenbank – mit Werten von fast 15.000 beatmeten Intensivpatienten und etwa 200 Parametern pro Patient – wurde vor Kurzem im Rahmen der Medizininformatikinitiative von acht Universitätskliniken generiert.3 Die dort gesammelten Daten seien dank ihrer Aktualität und Heterogenität etwa für das Training von KI-Algorithmen geeignet und ein wichtiger Baustein für die digitale Zukunft der Intensivmedizin: „Wir sind der festen Überzeugung, dass wir durch mehr Digitalisierung die Versorgung weiter verbessern, Qualität sichern und letztendlich mehr Menschen zurück ins Leben bringen können“, fasst Marx das Leitbild der DIVI-Sektion ‚Digitale Medizin‘ abschließend zusammen. 


Quellen: 

  1. Sepsis 2023: Status idem oder neue Perspektiven in Diagnostik und Therapie? Thieme AINS
  2. DIVI-Empfehlung zur Struktur und Ausstattung von Intensivstationen 2022 (Kurzfassung)
  3. Smart Medical Information Technology for Healthcare (SMITH) - Klinischer Use Case ASIC (Algorithmische Überwachung in der Intensivversorgung)

30.01.2023

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