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Artikel • Projekt in Estland

Gen-Analyse für alle Bürger

In Sachen Genetik gilt Estland als Vorreiter – zu Recht, wie das ambitionierte estnische Genomprojekt (Eesti Geenivaramu) zeigt. Dieses soll das Erbgut jedes Bürgers auf Erkrankungsrisiken überprüfen. Bei erkannter Gefährdung folgen Information, Prävention und gegebenenfalls Therapie.

Dr. Jaanus Pikani, einer der Initiatoren, spricht über Startschwierigkeiten des Genomprojekts und dessen Potential für das estnische – und womöglich weltweite – Gesundheitswesen. 

portrait of Jaanus Pikani
Dr. Jaanus Pikani ist einer der Initiatoren des Estnischen Genomprojekts

Als das Projekt 2000 seinen Anfang nahm, hatte es einige Hürden zu nehmen. Pikani erinnert sich: „Die meisten Leute waren wegen der Datensicherheit in Sorge – das ist auch heute noch so.“ Deshalb wurden von Anfang an hohe Sicherheitsstandards gesetzt, um die Genomdaten vor Missbrauch zu schützen. Auch finanziell lief nicht alles rund: Anfangs profitierte das Projekt, eine Non-Profit-Partnerschaft der estnischen Regierung und der Firma EGeen, vom Hype, den die Erfolgsmeldungen des intenationalen Humangenomprojekts (HGP) auslösten. Nach einiger Zeit flaute das Interesse jedoch spürbar ab, ebenso wie die Unterstützung der Investoren. Daher wurde das Projekt in die öffentliche Hand gelegt und läuft nun unter der Federführung der Universität Tartu.

150.000 Datensätze, Tendenz steigend

Mittlerweile umfasst das Projekt Datensätze von mehr als 150.000 Personen; Informationen wie Geschlecht, Alter, Größe und Gewicht sind ebenso enthalten wie Angaben zu medizinisch relevanten Faktoren wie Essgewohnheiten, Bewegung und Rauchen, zudem wird die eigene und familiäre Krankheitsgeschichte erhoben. Kernstück der Untersuchung ist eine Blutprobe, aus der später die DNS extrahiert wird. Für eine spätere Verwendung werden zudem die Leukozyten der Teilnehmer kryokonserviert.

Diese Weitsicht hat einen guten Grund, erklärt Pikani: „Als wir mit der Sammlung für die Biobank begonnen haben, existierte noch keine bezahlbare Technik, mit der Genotypisierung oder Sequenzierung hätten durchgeführt werden können.“ Fortschritte in der Genforschung machen jedoch mittlerweile die Auswertung der gesammelten Daten möglich.

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News • Kaltgestellt

Die Biobank: Fundus für Forschung und Fortschritt

Die medizinische Forschung kommt ohne Laboruntersuchungen nicht aus, wenn es darum geht, Krankheitsursachen zu erkennen oder neue Therapieansätze zu entwickeln. Wichtigste Voraussetzung ist dabei das Material: Blut, andere Körperflüssigkeiten oder Gewebeproben, zum Beispiel von Tumoren. Gesammelt und aufbewahrt wird dieses Material in Biobanken. Eine davon ist die Integrierte Biobank am UKJ.

Genetische Frühwarnsysteme

Diese bringen nicht nur die Wissenschaft voran, sondern nützen auch den Spendern selbst: „Wird im Genom beispielsweise ein erhöhtes Krebsrisiko festgestellt, übernimmt ein Onkologe den Fall und eine genauere Sequenzierung wird durchgeführt.“ In 5-10 Jahren, mutmaßt Pikani, könnten auf diese Weise präventive Praktiken wie das Mammographie-Screening obsolet werden. „Dadurch entfällt die Strahlenbelastung bei der Untersuchung, die Zahl falsch-positiver Befunde sinkt und wir erreichen jüngere Frauen, die sonst nicht an Screenings teilnehmen.“

Ein weiterer Aspekt betrifft die Pharmakogenomik: „Ein geringer Prozentsatz – etwa 2% der Bevölkerung – metabolisiert Medikamente erheblich schneller oder langsamer als der Rest“, sagt Pikani. „Auch das ist oft an den Genen ablesbar. Wird ein solcher Marker gefunden, müssen Verschreibungen angepasst werden, um Unter- oder Überdosierungen zu vermeiden.“ In Estland, wo Rezepte elektronisch verwaltet werden, könnte zudem der Arzt bei einer entsprechenden Besonderheit eines Patienten automatisch gewarnt werden.

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News • Digitalisierung

Estland zeigt eHealth-Lösungen

Estland gilt derzeit als Vorreiter rund um die Digitalisierung des Gesundheitswesens. Noch bis Ende 2017 hat Estland den Vorsitz im Rat der Europäischen Union und veranstaltet in diesem Zeitraum eine Reihe an Konferenzen zum Thema „e-Health-Innovationen“. Im Zuge dessen wurde vom 16. bis 18. Oktober 2017 eine Delegation des Bundesministeriums für Gesundheit nach Tallinn eingeladen.

Einmal Genom zum Mitnehmen, bitte!

Für viele ist das Wissen um ein zwei- oder dreifach höheres Herzinfarktrisiko ein starker Anreiz, etwas gegen Übergewicht oder Tabakkonsum zu unternehmen

Jaanus Pikani

Teilnehmer einer Pilotgruppe können sich ihre Genomdaten sogar aushändigen lassen, um sie beispielweise an ihren Hausarzt weiterzugeben. „Wir wollen damit ermitteln, wie der Umgang mit diesen Daten im Gesundheitssystem funktionieren kann.“ Ein kniffliger Punkt ist etwa der Umgang mit Erbkrankheiten, sagt Pikani: „Der Biobank-Teilnehmer hat sein Einverständnis für die Untersuchung gegeben – aber was ist mit seinen Verwandten? Dürfen wir sie auf bestehende Risiken hinweisen, oder müssen wir es sogar? Die ethischen Konsequenzen müssen wir sehr genau bedenken.“

Pikani sieht großes Potenzial im Genomprojekt: „Biomarker wie das Protein BRCA2 können mit hoher Wahrscheinlichkeit das Auftreten bestimmter Erkrankungen vorhersagen – in diesem Fall Brustkrebs. Ähnliche Marker gibt es auch für kardiovaskuläre Erkrankungen.“ Die Früherkennung solcher Risiken kann zur effektiven Prävention genutzt werden. „Natürlich gibt es einige, die die Ergebnisse dann nicht ernst nehmen. Aber für viele ist das Wissen um ein zwei- oder dreifach höheres Herzinfarktrisiko ein starker Anreiz, etwas gegen Übergewicht oder Tabakkonsum zu unternehmen.“

Scientist hand holding a Test tubes in a laboratory

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Ärzte müssen ’Lesen lernen’

Das Verfahren wird zunehmend ökonomischer, insbesondere in Relation zu den möglichen Behandlungskosten, die in einigen Fällen mehrere zehntausend Euro betragen können

Jaanus Pikani

Bis es zur flächendeckenden Einführung kommen kann, müssen Hausärzte gründlich im Umgang mit den Genomdaten geschult werden, um diese richtig interpretieren zu können. Zudem ist der Aufbau einer technischen Infrastruktur geplant, um die Daten gesetzeskonform zu handhaben. Dafür sollen Fördergelder aus dem Europäischen Strukturfonds bereitgestellt werden.

Pikani hofft, in naher Zukunft die gesamte Bevölkerung Estlands zu erfassen: „Wenn wir pro Jahr 100.000 Bürger hinzugewinnen, gelingt uns bereits in zehn Jahren eine vollständige Abdeckung.“ Da das Projekt öffentlich finanziert wird, muss dafür die Bevölkerung überzeugt werden. „Das Verfahren wird zunehmend ökonomischer, insbesondere in Relation zu den möglichen Behandlungskosten, die in einigen Fällen mehrere zehntausend Euro betragen können.“ 

Viele Nationen dürften das Genomprojekt mit großem Interesse beobachten, doch es ist kein Zufall, dass Estland die Vorreiterrolle einnimmt: „Wir sind neuen Technologien gegenüber aufgeschlossen, bei uns gibt es bereits seit 15 Jahren die Möglichkeit, digital zu wählen“, sagt Pikani. Auch die mit 1,3 Millionen vergleichsweise geringe Einwohnerzahl begünstigt die Durchführung eines nationales Projekts. Bewährt sich das Konzept in Estland, könne man überlegen, ob es sich in größerem Maßstab in anderen Ländern umsetzen lässt, blickt Pikani in die Zukunft.


Profil:

Dr. Jaanus Pikani ist Vorsitzender des Tartu Biotechnology Park und der Life Science-, Bio- und Health-Tech-Meta-Cluster-Organisation ScanBalt. Als Unternehmer und Gesundheitsberater ist er zudem für die Weltbank und die WHO tätig. Dr. Pikani zählt zu den Initiatoren des Estnischen Genomprojekts.

23.08.2019

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