News • Kopfsache
Forscher entschlüsseln das Rezeptom des Gehirns
Die Gesamtverteilung aller Rezeptoren im Gehirn, das Rezeptom, sehen Forschende als neuen Ansatz für Computermodelle, die die Funktion des Gehirns nachbilden, sowie für Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen.
Im Gehirn wirken mehr als hundert molekulare Substanzen als Transmitter, die über Tausende von unterschiedlichen Rezeptortypen Kommunikationswege zwischen Nervenzellen steuern. In einem Übersichtsartikel diskutiert ein internationales Forschungsteam, welchen Einfluss die Aktivierung bestimmter Nervenzellrezeptoren auf neuronale Netzwerke im Gehirn hat. Die Autoren der Ruhr-Universität Bochum (RUB), der Universität Pompeu Fabra in Barcelona und der Universität Oxford stellen Konzepte vor, um rezeptorspezifische Modulationen von Gehirnzuständen quantifizieren zu können. Sie entwickelten auch ein Computermodell, das den Einfluss einzelner Rezeptortypen auf die Gehirnaktivität vorhersagen kann. Darüber hinaus zeigen die Wissenschaftler, wie die im Computer gewonnenen Vorhersagen durch experimentelle Methoden überprüft und weiterentwickelt werden können. Sie hoffen, damit neue Wege zur Diagnose und Behandlung psychischer Erkrankungen zu eröffnen.
Über ihre Arbeiten und den aktuellen Stand der Forschung berichten sie in einem State-of-the-Art Review im FEBS Journal.
Über den molekularen Aufbau von neuronalen Rezeptoren ist bereits viel bekannt. Doch Forscher wissen wenig darüber, wie einzelne Rezeptortypen ganzheitlich Dynamiken in den Netzwerken des Gehirns verändern. Um das im Computermodell zu simulieren, führte das Forschungsteam Daten aus drei verschiedenen bildgebenden Verfahren zusammen: Informationen zu den anatomischen Vernetzungen im Gehirn, aufgenommen mit diffusionsgewichteter Magnetresonanztomografie; Informationen über die Ruheaktivität von Probanden aus Messungen mit funktionaler Magnetresonanztomografie, kurz fMRT; und die Verteilungen von Rezeptortypen, aufgezeichnet mittels Positronen-Emissions-Tomografie (PET). Anhand dieses Inputs konnten die Forscher ein für jeden Probanden individuelles Rezeptom erstellen, welches die Gesamtverteilung von Rezeptortypen im Gehirn erfasst.
Dieser Artikel könnte Sie auch interessieren
Artikel • Therapieplanung
fMRT blickt Tumorpatienten ins Gehirn
Ursprünglich rein in der Forschung zuhause, hat sich die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) inzwischen einen festen Platz in der präoperativen Hirntumordiagnostik erobert. Die Technik macht Hirnaktivität sichtbar – das kann bei der Therapieplanung von Hirntumoren ein entscheidender Vorteil sein.
Damit konnten die Forscher Wechselwirkungen zwischen Nervenzellen und die Aktivierungen einzelner Rezeptortypen im Computermodell simulieren. So aktivierten sie beispielsweise virtuell den Serotonin-Rezeptor 5-HT2A und beobachteten die Veränderungen im Modellgehirn. „Sie waren erstaunlich ähnlich zu denen, die andere Gruppen im Scanner beobachtet hatten, nachdem die Probandinnen und Probanden Psilocybin oder LSD verabreicht bekommen hatten – beides psychodelisch wirkende Substanzen, die spezifisch an den 5-HT2A-Rezeptor binden“, erklärt Privatdozent Dr. Dirk Jancke vom Bochumer Optical Imaging Lab, Erstautor des Review-Artikels. Das Computermodell war also in der Lage, Änderungen in der Gesamtdynamik des Gehirns nach Aktivierung eines einzelnen Rezeptortyps vorherzusagen.
Pharmakologische Substanzen sind meist nicht spezifisch für nur einen Rezeptortyp und haben zudem den Nachteil, dass Nervenzellen damit nicht lokal und gezielt aktiviert werden können. Dadurch sind komplexere Voraussagen und Tests an menschlichen Probanden nur eingeschränkt möglich. Die Autoren schlagen daher vor, ihre Hypothesen durch den Einsatz optogenetischer Methoden weiterzuentwickeln und in tierexperimentellen Ansätzen zu prüfen. Die Arbeitsgruppe um Co-Autor Prof. Dr. Stefan Herlitze, Lehrstuhl für Allgemeine Zoologie und Neurobiologie der RUB, gehört zu den Pionieren dieser Technik. Dabei werden virale Vektoren genutzt, um Zellen dazu anzuleiten, bestimmte Proteine zu produzieren. Mit dieser Technik können genmodifizierte Mäuse zum Beispiel dazu gebracht werden, lichtaktivierbare Rezeptoren zu produzieren sowie Proteine, die fluoreszieren, wenn Nervenzellen aktiv sind.
In früheren Studien nutzen die Autoren das Verfahren erstmals, um zu zeigen, wie Serotonin die visuelle Informationsverarbeitung beeinflusst. „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass der 5-HT2A-Rezeptor aktuelle visuelle Eingänge unterdrückt“, erklärt Dirk Jancke. „Äußere Reize werden dadurch weniger wichtig für das Gehirn und gleichzeitig intern ablaufende Prozesse relativ verstärkt. Halluzinationen könnten ihre Ursache darin haben, dass dieses Ungleichgewicht zu stark geworden ist.“
Psychische Erkrankungen beruhen häufig auf Funktionsstörungen von Transmittersystemen und damit auf Veränderungen in der Aktivierung verschiedener Rezeptoren im Rezeptom. Das geht mit spezifischen Modulationen von Gehirnzuständen einher, die sich in subtilen Änderungen der Dynamik weitverzweigter neuronaler Netzwerke im Gehirn äußern können. Die Wissenschaftler hoffen, durch ihre Forschung neue Konzepte anzustoßen, um psychische Erkrankungen durch Biomarker besser diagnostizieren und gezielter behandeln zu können. „Denkbar sind spezifische pharmakologische Therapien und Stimulationstechniken in Kombination mit begleitenden psychiatrischen Behandlungen, die helfen, neue Kontexte zu lernen, um pathologische Gehirnzustände neu auszubalancieren“, so Jancke.
Quelle: Ruhr-Universität Bochum
23.04.2021