Artikel • Zukunft von Digitalisierung und Interoperabilität
Druck auf dem digitalen Kessel
Die großen Digitalprojekte im deutschen Gesundheitswesen – elektronische Patientenakte (ePA), Telematikinfrastruktur (TI) und Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs), um nur einige zu nennen – sind bislang kaum als Ruhmesblatt zu bezeichnen: Großen Ankündigungen folgten meist lange Wartezeiten, verschobene Starttermine und eingeschränkte Funktionalität. Nach der Bundestagswahl im September werden nun die Karten neu gemischt. Der Appell der Experten auf dem 6. Deutschen Interoperabilitätstag (DIT) an das neue Bundesministerium für Gesundheit lautet: Interoperabilität besser im Gesundheitswesen etablieren – aber wie? Wir sprachen mit Dr. Georg Münzenrieder, Ministerialrat am Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege und Vorsitzender des Beirats der gematik, wie sich aus dem bisher Gelernten der Weg in die digitale Zukunft bahnen lässt.
Interview: Daniela Zimmermann
HIE: Eine Forderung an die künftige Bundesregierung lautet, einen Prozess zu entwickeln, um Interoperabilität im Gesundheitswesen zu etablieren (inkl. einer Koordinierungsstelle). Was genau ist damit gemeint, denn erste Schritte sind bereits gemacht (Telematikinfrastruktur)?
Münzenrieder: „Die Interoperabilität im deutschen Gesundheitswesen wird einer der Schlüssel für die Digitalisierung in diesem Bereich sein. Zum einen gibt es hier verbindliche Standards für alles, was an Standardanwendungen im Rahmen der Telematikinfrastruktur (TI) läuft. Diese Entwicklung ist aus staatlicher Sicht entscheidend, hier haben wir aber seit einigen Jahren Geschwindigkeit aufgenommen und sind grundsätzlich auf einem guten Weg. Hervorzuheben ist hier vor allem, dass die gematik nun auch verstärkt auf international anerkennte Standards zurückgreift; das war vor einigen Jahren noch ganz anders. Auch ist es meines Erachtens sehr positiv, dass sich die gematik verstärkt mit der Industrie abstimmt, bevor neue Standards im Rahmen der TI festgelegt werden. Anders sieht es beim Thema Interoperabilität außerhalb der TI aus. Hier bedarf es klar einer stärkeren Koordinierung. Mit Vesta gab es in den vergangenen Jahren bereits eine Initiative dazu auf Bundesebene, leider ohne durchschlagenden Erfolg. Nun gibt es einen neuen Aufschlag mit der Gesundheits-IT-Interoperabilitäts-Governance-Verordnung. Auf dieser Basis soll das Thema Interoperabilität neu organisiert werden. Wichtig ist hier aus meiner Sicht, dass die Entwickler von Anwendungen und die Wissenschaft nicht nur angehört, sondern in den Entscheidungsprozess hin zu Standards auf Augenhöhe einbezogen werden. Im Rahmen des Verordnungsentwurfs ist dazu insbesondere eine Koordinierungsstelle für Interoperabilität im Gesundheitswesen vorgesehen. Mit der Gesundheits-IT-Interoperabilitäts-Governance-Verordnung wird (wenn sie entsprechend verabschiedet wird) somit grundsätzlich eine geeignete Basis gelegt, die zukünftige Praxis wird dann zeigen, ob die Erwartungen/Hoffnungen auch erfüllt werden.“
An welchen Stellen geht es Ihrer Meinung nach mit der Digitalisierung im Gesundheitswesen nicht zügig genug voran? Welche Hindernisse gibt es?
„Um mit einer positiven Aussage zu beginnen: die Digitalisierung hat gerade aufgrund der Entwicklungen durch die Corona-Pandemie in der Fläche einen großen Schub erfahren; man denke nur an den Durchbruch der Videosprechstunde. Auch positiv hervorzuheben ist, dass in den vergangenen vier Jahren viele entscheidende gesetzliche und untergesetzliche Grundlagen geschaffen wurden, um der Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen einen entscheidenden Schub zu geben. Auf der anderen Seite ist auch richtig, dass wir im internationalen Vergleich anderen Ländern noch hinterherhinken. Zentrale und dringliche Handlungsfelder für die nächsten Jahre sind aus meiner Sicht unmittelbar der möglichst rasche Rollout der TI mit ihren Kernanwendungen und mittelfristig die Nutzung von Gesundheitsdaten für die Forschung, eine breite Initiative für P4-Medizin – präventiv, personalisiert, partizipativ und präzise – und die grenzüberschreitende Vernetzung von Gesundheitsdaten in der EU. Bei der Nutzung von Gesundheitsdaten sollten wir möglichst rasch sowohl der Wissenschaft als auch forschenden Unternehmen in Deutschland die Möglichkeit eröffnen, Gesundheitsdaten für die Forschung zu nutzen. Das kann einerseits über einen breiteren Zugang und auch einen größeren Datenkranz des Forschungsdatenzentrums nach SGB V erfolgen. Andererseits natürlich auch über die Datenspendemöglichkeit im Rahmen der elektronischen Patientenakte (ePA). Letzteres ist im SGB V mittlerweile angelegt, ePA-Inhaber können künftig in die Nutzung ihrer gespeicherten Daten für Forschungszwecke einwilligen. Dies muss grundsätzlich möglichst schnell umgesetzt werden. Hier stellt sich auch die Frage ob in absehbarer Zeit genug Daten von einer ausreichenden Zahl an Versicherten hinterlegt sind, damit Forschung sinnvoll erfolgen kann. Evtl. muss man in diesem Zusammenhang bald auch über die Frage diskutieren, ob es nicht eines Systemwechsels bei der ePA von Opt-In hin zu Opt-Out bedarf.“
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In der Covid-19-Pandemie sind viele Menschen bereit, ihre Gesundheitsdaten der Forschung zur Verfügung zu stellen. Das ist ein wichtiges Ergebnis einer Studie der Universität Bremen zum Nutzungsverhalten von Usern der Corona-Datenspende-App. Die Studie lieferte auch Erkenntnisse für künftige Krisen-Technologien.
An der gematik sind sehr viele Organisationen beteiligt, was einen großen Abstimmungsbedarf bedeutet. Kann eine Koordinierungsstelle hier helfen, Dinge zu beschleunigen, vorausgesetzt, sie ist mit Mitteln ausgestattet, sich durchzusetzen?
„Die Beteiligungsverhältnisse in der gematik spiegeln die Realität im deutschen Gesundheitswesen wider: auf der einen Seite ist das Bundesgesundheitsministerium, das das Gesamtkonstrukt lenkt und die entsprechenden gesetzlichen Leitplanken vorbereitet. Daneben auch die Spitzenorganisationen der Selbstverwaltung, die über die Kostenträger die Umsetzung finanzieren und diese über die Leistungserbringer das entscheidende Element bei der Umsetzung sind. Zudem gibt es eine Reihe von verschiedensten Organisationen und Institutionen (wie Industrie, Wissenschaft, weitere Leistungserbringer, Patientenorganisationen, Länder etc.), die ebenfalls ein großes Interesse an den Entscheidungen und Umsetzungsschritten in der Gematik haben und diese über den Beirat der gematik begleiten. Die Verhältnisse sind komplex, allerdings ist das derzeitige Organisationssystem innerhalb der Gematik mit den unterschiedlichen Gremien funktionsfähig und grundsätzlich gut austariert. Allerdings stellt sich bei neuen Themen oder der Neustrukturierung von bereits bestehenden Aufgaben (wie beim Thema Interoperabilität) die Frage, ob es nicht auch organisatorischer Anpassungen bedarf. Daher ist es meines Erachtens sinnvoll, beispielsweise eine Geschäftsstelle für Interoperabilität einzurichten, eine zusätzliche generelle Koordinierungsstelle in der gematik hätte meines Erachtens keinen Mehrwert.“
Der Industrie wird immer mal wieder vorgeworfen, dass sie die technische Ausstattung nicht rechtzeitig liefert und damit die Einführung z.B. der Telematikinfrastruktur behindert. Welche Gründe gibt es Ihrer Meinung nach dafür?
„In diesem Zusammenhang ist es meist schwer, klar zu erkennen, was der eigentliche Auslöser und was ‚nur‘ die Folgeentwicklungen sind. Da muss man den Einzelfall betrachten. Allerdings hat die Erkenntnis, ob der Auslöser z.B. kurzfristig geänderte Vorgaben oder Verzögerungen in der Umsetzung waren, so oder so nur einen begrenzten Mehrwert. Grundsätzlich wollen alle Beteiligten die TI voranbringen und deren Anwendungen erfolgreich in die Anwendung bringen. Daher ist hier meines Erachtens eine offene, konstruktive Gesprächskultur und Transparenz bei der Weiterentwicklung von Vorgaben entscheidend. Hier sind wir seit einigen Jahren auf einem guten Weg, allerdings gibt es natürlich auch immer noch Verbesserungspotential.“
Würden Bürger befragt, wer oder was die Gematik ist, fielen die Antworten vermutlich ernüchternd aus. Könnte hier mehr Öffentlichkeitsarbeit helfen, die Vorhaben breit bekannt zu machen und für mehr Akzeptanz zu sorgen?
Generell bleibt die Erkenntnis, dass im Einzelfall erforderliche technische Entwicklungen sehr rasch umgesetzt werden können, und zwar deutschlandweit in wenigen Monaten
Georg Münzenrieder
„Ich glaube gar nicht, dass sich die Gematik daran messen lassen muss, ob die Bürger sie kennt. Entscheidend ist vielmehr, dass die Bürger wissen, dass es nun im Gesundheitswesen Anwendungen/Apps gibt, die sicher sind und ihnen für ihre Gesundheitsbedürfnisse einen Mehrwert geben. Ich denke da natürlich v.a. an die ePA, aber auch an das E-Rezept oder DiGAs oder zukünftig auch DiPAs. Hier gebe ich Ihnen Recht, wir brauchen mehr Öffentlichkeitsarbeit. Das muss allerdings eine Gemeinschaftsaufgabe aller Beteiligter sein: z.B. Bundesgesundheitsministerium und Länderministerien mit entsprechenden Veranstaltungen und Öffentlichkeitsarbeit, aber vor allem auch die Krankenkassen als Anbieter der ePAs. Und natürlich die Leistungserbringer, denn die sind am nächsten an ihren Patient:innen dran. Die gematik sollte natürlich auch ihren Teil dazu beitragen, z.B. mit Erklärvideos, Veranstaltungen und Pressearbeit. Allerdings muss man hier auch beachten, was der gesetzlich definierte Auftrag der gematik ist, nämlich die Einführung, der Betrieb und die Weiterentwicklung der TI, der elektronischen Gesundheitskarte sowie zugehöriger Fachanwendungen und sogenannter weiterer Anwendungen für die Kommunikation zwischen Heilberuflern, Kostenträgern und Versicherten, mit Fokus auf der Technik.“
Zu Beginn der Pandemie hat die Digitalisierung einen großen Schub bekommen. Die Corona-Warn-App (CWA) wurde vergleichsweise in Rekordzeit erstellt. Können daraus für die Beschleunigung der Interoperationalisierung Schlüsse gezogen werden?
„In der Tat, da haben wir einige Beispiele, wie die CWA oder auch CovPass. Gerade letztere ist höchst relevant für die TI, da es sich dabei es sich dabei um einen ‚vorbereitenden Schritt‘ für den digitalen Impfpass in der TI handelt, hier wurde also von Anfang an auf die Interoperabilität geachtet. Generell bleibt die Erkenntnis, dass im Einzelfall erforderliche technische Entwicklungen sehr rasch umgesetzt werden können, und zwar deutschlandweit in wenigen Monaten. Dies zeigt, dass wir bei der Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen deutlich an Geschwindigkeit gewinnen können. Allerdings gilt es auch zu beachten, dass es sich beim Rollout der TI und gerade der Kernanwendung ePA anders als bei der Einführung einer singulären App um einen hochkomplexen Vorgang handelt, bei der es der Abstimmung und Einbindung verschiedenster Stellen bedarf. Daher sollte man beides nicht gleichsetzen und erwarten, dass wir zukünftig bei Anwendungen im Rahmen der TI in wenigen Monaten von der technischen Entwicklung bis zum Rollout kommen. Die Einführung neuer Anwendungen im Rahmen der TI muss gut vorbereitet sein, damit sich diese in den Primärsystemen der Leistungserbringer einpassen, daher werden dort auch weiterhin Tests erforderlich sein, die dann auch Zeit kosten.“
Profil:
Dr. Georg Münzenrieder ist Ministerialrat am Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege, Referatsleiter der Bereiche 'Grundsatzangelegenheiten der Digitalisierung in Gesundheit und Pflege' sowie 'Zukunfts- und Innovationsprojekte' und Vorsitzender des Beirats der gematik. Der ausgebildete Jurist ist als stellvertretender Leiter der Taskforce Corona-Pandemie am Staatsministerium mitverantwortlich für die Zusammenarbeit der relevanten Institutionen. Darüber hinaus ist Dr. Münzenrieder Vorsitzender der Bund-Länder-Arbeitsgemeinschaft Digitalisierung im Gesundheitswesen.
24.10.2021