Artikel • Interoperabilität

Die Weichen für das Datenmanagement von morgen stellen

Vernetzte und semantisch-interoperable Gesundheitsdaten sind eine riesige Chance für die Forschung. Was geht schon heute und – vor allem – worauf können wir gespannt hinfiebern? Auf dem Deutschen Interoperabilitätstages (DIT) schaut unter anderem Dr. Samrend Saboor in diese Glaskugel.

Bildquelle: Gerd Altmann auf Pixabay

Der Vendor-Cochair IHE Deutschland e. V. und Head of Patient Management Solutions bei Siemens Healthineers erklärt im Vorfeld der Veranstaltung, warum jetzt das Fundament für die Datengewinnung und -verwendung von morgen gelegt wird – und welche Rolle eine gesunde Fehlerkultur dabei spielt.  

HiE: Ihr Vortragstitel beim DIT lautet 'Unsere Vision: Die Zukunft ist vielfältig': Was steckt dahinter? Was ist eine vielfältige Zukunft?

portrait of Samrend Saboor
Dr. Samrend Saboor

Bildquelle: privat

Dr. Samrend Saboor: „Der Vortrag dient als kleine Einleitung in den Themenblock 'Von Heute für Morgen lernen'. In diesem Block erfahren wir in Impulsvorträgen beispielsweise welche Möglichkeiten es schon heute gibt, um durch vernetzte Gesundheitsdaten neue Erkenntnisse zu gewinnen. Ich finde z. B. die Tatsache sehr spannend, dass es heute mit CODEX eine Forschungsplattform über alle Universitätsklinika in Deutschland gibt, über welche die teilnehmenden Einrichtungen Forschungsdaten zu Covid-19 bereitstellen – Daten aus der Routineversorgung werden aggregiert, anonymisiert und harmonisiert und tragen so zu einem verbesserten Verständnis der Erkrankung bei. Die so aufbereiteten semantisch-interoperablen Daten bieten grundsätzlich die Möglichkeit, dass wir sie auch morgen zu ganz anderen Forschungsfragen heranziehen. Semantisch interoperable Daten können also für vielfältige Forschungsfragen herangezogen werden.“

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„Ein anderer Aspekt der Vielfältigkeit ist die große Menge unterschiedlicher digitaler Mehrwertdienste. Das ist einerseits beeindruckend – wer würde nicht z. B. gerne über AI-gestützte Symptom-Checker an den richtigen Behandelnden überwiesen werden und bereits daheim über eine Anamnese-App die Wartezeit in der Praxis verkürzen oder vielleicht direkt über eine virtuelle Visite Rat einholen? Andererseits stellt sich die Frage, wie diese digitalen Dienste überhaupt ihren Wert für Behandelnde sowie Patientinnen und Patienten entfalten können. Eine wichtige Voraussetzung sind auch hier semantisch interoperable Daten, die nahtlos zwischen den Versorgungssektoren einerseits und den Patienten (bzw. den von ihnen verwendeten digitalen Lösungen) anderseits ausgetauscht werden müssen. Dabei werden im Rahmen jeder Behandlung aber auch jeder Verwendung dieser digitalen Gesundheitsanwendungen Daten erzeugt, die wiederum in künftigen Behandlungssituationen für z. B. adäquatere Behandlungsentscheidungen von großer Bedeutung sein können.

Es gibt dazu die sehr passende und prägnante Aussage 'Zukunft braucht Herkunft' – eine mögliche Auslegung hiervon ist: wir müssen heute die stabile, interoperable Basis für künftige Erkenntnisse legen. In der Session, eigentlich auf dem gesamten DIT, gehen die Referentinnen und Referenten auf aktuelle und sehr unterschiedliche Beispiele ein. Insofern ist der Titel eigentlich vielleicht sogar ein wenig irreführend – denn nicht nur die Zukunft, sondern bereits die Gegenwart ist vielfältig.“

Wie sieht die perfekte Interoperabilität aus?

„Hier könnte ich ausholen. Ich möchte mich aber auf die wesentlichsten Eigenschaften beschränken: Interoperabilität steht für Offenheit und Partizipation. Beide Eigenschaften kommen auf unterschiedliche Weise zum Tragen. Es bedeutet, dass gemeinsam mit allen relevanten Stakeholdern spezifiziert wird, wie Versorgungsprozesse durch nahtlose Informationsweitergabe über alle beteiligten Systeme und Einrichtungen hinweg unterstützt werden – das hat Auswirkungen auf das Verhalten der beteiligten Systeme und deren Schnittstellen sowie die Dokumentation (und hat damit letztlich natürlich auch Einfluss darauf, wie Behandelnde zusammenarbeiten). Kein Stakeholder wird ignoriert, Kommentare zur Spezifikation werden ernst genommen und zumindest im Rahmen der Erarbeitung in Betracht gezogen. Es gibt ein gemeinsames Verständnis von Anwendungsfällen und deren Priorisierung. Es gibt ebenso ein gemeinsames Verständnis darüber, wie Informationen ausgedrückt werden. Es bedeutet, dass Hersteller auf die Verwendung eigener Schnittstellen und Dokumentation verzichten, die den Zugriff auf die bzw. die Auswertung der verwalteten Informationen erschweren oder sogar unmöglich machen (der berüchtigte Vendor Lock-In). 

Interoperabilität [...] ist die Basis dafür, dass sich Behandelnde untereinander auszutauschen – leider rückt dieser kollaborative Aspekt noch zu häufig in den Hintergrund

Samrend Saboor

Bei all dem erfüllt Interoperabilität wie bereits angedeutet keinen Selbstzweck. Die perfekte Interoperabilität ist Mittel zum Zweck und soll Menschen zusammenbringen: Sie ermöglicht Behandelnden einen umfassenden Blick auf alle relevanten Informationen der Patientinnen und Patienten. Sie ist die Basis dafür, dass sich Behandelnde untereinander auszutauschen – leider rückt dieser kollaborative Aspekt noch zu häufig in den Hintergrund. Die perfekte Interoperabilität ermöglicht die Interaktion von Patienten und Behandlern – sie erlaubt, dass Patientinnen und Patienten die Daten, die ihre digitalen Gesundheitsanwendungen erzeugen, nahtlos den Behandelnden zur Verfügung stellen können (z. B. PROMs; Patient Reported Outcome Measures). Ebenso ist es auf dieser Basis möglich, dass Behandler ihren Patienten Behandlungspläne zusammenstellen, die dann von den digitalen Gesundheitsanwendungen bei Bedarf ausgelesen werden können und entsprechende z. B. Warnhinweise geben können. Gerade in diesem Bereich sehe ich sehr großes Potenzial aber auch einigen Nachholbedarf. 

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Ich möchte etwas selbstkritisch anmerken, dass wir bisher in der Interoperabilitäts-Community den Fokus sehr stark auf Anwender (also Behandler bzw. Leistungserbringer) und Anbieter gelegt haben. Die Bedürfnisse und Anforderungen von Patientinnen und Patienten in Bezug auf Interoperabilität kamen hierbei bisher zu kurz. 

Ein letzter Punkt noch: die perfekte Interoperabilität macht keinen Unterschied zwischen Versorgung und Forschung. Im Gegenteil, sie ermöglicht erst die Bereitstellung und Auswertung forschungsrelevanter Daten aus der Routineversorgung.“

Ihre Themensession beim DIT heißt 'Von heute für morgen lernen'. Können wir in puncto Interoperabilität auch gute Ansätze mit in die Zukunft nehmen oder lernen wir nur aus unseren aktuellen Fehlern?

„Die Standardisierungs- und Interoperabilitätsorganisationen haben international und auch national eine ebenso lebendige wie diverse Community. Die partizipativen Prozesse und Konzepte für die Erarbeitung von Spezifikationen und Profilen haben sich etabliert und als praxistauglich bewiesen. Das ist eine solide Basis für Zukunft, die wir erhalten und ausbauen müssen. Auffällig finde ich derzeit, dass der Begriff 'Interoperabilität' scheinbar zwar in aller Munde ist, aber bei genauerem Hinhören recht unterschiedlich begrifflich belegt ist. Die Spannbreite reicht hier von 'Interoperabilität ist, wenn alle genau das tun, was ich sage' bis 'Interoperabilität ist der Informationsaustausch zwischen Systemen' – ersteres ist für meinen Geschmack zu absolutistisch und ignoriert die Tatsache, dass die Realität zu komplex für jeden Einzelnen von uns ist, während mir die zweite Haltung schlichtweg zu kurz greift und z. B. die Relevanz einer ordentlichen Datengovernance ignoriert. Ich nehme nicht für mich in Anspruch, einen vollständigen Überblick zu haben. Dennoch nehme ich mit einer gewissen Besorgnis wahr, dass sich scheinbar die Sichtweise in Deutschland etabliert, dass man durch die blanke Anwendung eines Standards quasi interoperabel ist. Bei der Anwendung wird dann aber wenig bis keine Rücksicht auf bestehende Profile genommen, 'weil diese nicht auf den Use Case passen'. Dadurch entstehen viele Dialekte und von Interoperabilität kann dann keine Rede mehr sein, denn echte Interoperabilität bedeutet eben keinen Mapping-Aufwand. Ein wenig erinnert das an die Fehler der letzten Dekaden. Ich denke zwar nicht, dass man nur aus Fehlern lernen kann. Doch es liegt in der Natur des Lernens, das aus heutiger Sicht Richtige morgen korrigieren zu müssen. Wir werden sehen, was wir morgen korrigieren müssen.“

25.10.2021

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