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Artikel • Patientenorientierung
„Value Based Health Care“ – Gesundheit vergüten
Sprechen wir über Patientenorientierung im Gesundheitswesen, ist oft von „Value Based Health Care“ die Rede. Der Begriff beschreibt eine Bewegung, die seit Mitte der 2000er Jahre neue Organisations- und Vergütungsformen entwickelt hat, die sich stärker am Patientennutzen, also der für einen Patienten erzielten Gesundheit orientieren. Dabei wird die Ergebnisqualität den Kosten gegenübergestellt, die zur Erreichung der medizinischen Ergebnisse notwendig sind. Dr. Jens Deerberg-Wittram, Geschäftsführer der RoMed Kliniken der Stadt und des Landkreises Rosenheim, erklärt wie man „Value Based Health Care“ im deutschen Gesundheitssystem mit Leben füllen kann.
Wie ist das Gesundheitswesen bisher in Deutschland organisiert?
Um es mal zugespitzt auszudrücken: in einer Welt, die den Patientennutzen nicht in den Vordergrund stellt, stürzen sich Mediziner unterschiedlicher Fachrichtungen und teilweise auch unterschiedlicher Denkschulen relativ unkoordiniert auf den Patienten. Die Bezahlung orientiert sich dabei am Aufwand bzw. der Masse der Untersuchungen und Behandlungen. Ich nehme als Beispiel Prostatakrebs, der viele Männer betrifft. In seine Behandlung sind konservative und chirurgisch tätige Urologen, Labormediziner, Radiologen, Strahlentherapeuten und Onkologen involviert, die ihre fachspezifischen Untersuchungen und Therapien durchführen und sich danach meistens nicht mehr mit dem Patienten befassen. In der Regel weiß keiner der beteiligten Ärzte, ob der Patient Monate oder Jahre nach seiner Behandlung vom Krebs geheilt ist, unter schwerwiegenden Folgen der Erkrankung oder der Behandlung leidet, wie beispielsweise unter Impotenz, Inkontinenz, Darmschädigungen oder Angststörungen. Ob der Patient am Ende einer von vielen Bemühungen getragenen medizinischen Versorgung krebsfrei ist und Lebensqualität genießt, spielt in unserem derzeitigen Vergütungssystem keine Rolle.
Was muss passieren, um mehr Patientenorientierung zu erreichen?
Um diese Kette zu durchbrechen, stützen wir uns auf den Patientennutzen und messen und belohnen den „Value“. Der Value hat in diesem Konzept eine präzise Definition: outcome over cost, die medizinische Ergebnisqualität aus Sicht des Patienten steht im Verhältnis zu den Kosten, die man zum Erzielen der Qualität benötigt. Die Ergebnisqualität misst sich an Dingen, die für den Patienten klar und greifbar sind, wie sein Überleben, seine Schmerzfreiheit, eine erhöhte Beweglichkeit, Fähigkeit zur Teilhabe am täglichen Leben, insgesamt die krankheitsspezifische Lebensqualität. Die gemessene Ergebnisqualität wird ins Verhältnis zu den Kosten gestellt und den höchsten Wert erzielen die bestmöglichen Ergebnisse bei gleichzeitig geringsten Kosten. Ein gutes Beispiel für Kliniken, die den Patientennutzen erkennbar in den Vordergrund gerückt haben, sind die zertifizierten onkologischen Zentren. Sie konzentrieren sich auf bestimmte Organtumore und bringen alle beteiligten Fachleute in einem Tumorboard zusammen, um gemeinsam zu entscheiden, welches Therapiekonzept für den Patienten am sinnvollsten ist. Der nächste Schritt muss jetzt sein, für solche neuen Organisationsformen auch eine Ergebnismessung im Sinne eines höheren Patientennutzens und eine Kostenanalyse einzuführen.
Ist „Value Based Health Care“ auch deshalb entstanden, weil das Gesundheitssystem nicht mehr finanzierbar ist?
Dank neuer Medien sind Patienten besser informiert und stellen differenziertere Fragen.
Das ist von Land zu Land unterschiedlich. In den USA, dem Herkunftsland der Bewegung, ist die Diskussion stark ökonomisch getrieben. In Deutschland stehen die Kosten momentan nicht so sehr im Vordergrund. Vielmehr unterliegen wir einem kulturellen Wandel, weil Patienten ebenso wie Pflegende und Ärzte zunehmend nach dem Sinn einer Behandlung fragen. Dank neuer Medien sind Patienten besser informiert und stellen differenziertere Fragen. Als Ärzte kommen wir also gar nicht umhin, uns wortwörtlich zu erklären und den Nutzen einer Behandlung aufzuzeigen. Zudem muss auch Deutschland schauen, wie es mit seinen Ressourcen umgeht. Dabei geht es nicht nur um die Frage nach den Kosten, sondern auch um die begrenzte Zeit der Fachkräfte. In den Krankenhäusern, für die ich verantwortlich bin, müssen wir jeden Tag entscheiden, ob unsere limitierte Anzahl an Radiologen ihre Zeit mit zweifelhaft sinnvollen Maßnahmen verbringen soll, nur weil sie bezahlt werden, oder mit Dingen, die unserem Leitbild dienen, die Menschen unserer Region bestmöglich zu versorgen. In anderen Ländern wird bereits seit längerem mit Modellen experimentiert, bei denen ein Teil der Vergütung daran geknüpft ist, ob der Patient gesünder wird oder nicht. Interessanterweise hat sich herausgestellt, dass, werden solche Systeme eingeführt, Kliniken und Ärzte sich grundsätzlich neue Fragen stellen und Konsequenzen ziehen. Spielt bei der Vergütung einer Krebsbehandlung eine Rolle, ob Patienten depressiv sind, wird irgendwann ein Psychiater hinzugezogen, um einer möglichen depressiven Episode vorzubeugen oder sie zu behandeln.
Dadurch entstehen aber zunächst höhere Kosten. Wie wird das Gesundheitswesen damit am Ende preiswerter?
Es gibt nichts Teureres, als langfristige Probleme und schlechte Ergebnisqualität geschehen zu lassen.
Der Grundgedanke von „Value Based Health Care“ ist eigentlich einfach: Es gibt nichts Teureres, als langfristige Probleme und schlechte Ergebnisqualität geschehen zu lassen. Jeder Patient, der mit einer Komplikation, Schmerzen oder Angst leben muss, ist ein teurer Patient, denn er geht erneut zum Arzt, erhält weitere Untersuchungen, wird nachoperiert und dergleichen. Der günstigste Patient ist derjenige, der vom richtigen Arzt zur richtigen Zeit mit der richtigen Therapie geheilt wird. Teilt man diese Grundüberzeugung, ergibt sich daraus nicht nur ein ethischer Auftrag, sondern man handelt auch ökonomisch: Menschen möglichst schnell wieder funktional, kognitiv und mental fit zu machen. Und natürlich sollte auch genau das vergütet werden. Es gibt im Englischen den schönen Satz „you get what you pay for“. Wenn für Krankheit bezahlt wird, kommt auch Krankheit dabei heraus. Wir vergüten bisher nicht die Gesundheit, sondern die Behandlung von Krankheiten und der ökonomische Effekt ist, dass wir oft zusätzliche Krankheiten erzeugen. „Value Based Health Care“ impliziert, dass ein System, das konsequent mit einem möglichst geringen Mittelaufwand möglichst viel Gesundheit produziert auch das ökonomisch Vernünftigste ist.
Profil:
Dr. Jens Deerberg-Wittram ist Geschäftsführer der RoMed Kliniken, der Kliniken der Stadt und des Landkreises Rosenheim. Nach seinem Medizinstudium und beruflichen Stationen am Universitätsklinikum Kiel, in der Medizintechnik-Industrie und in einem strategischen Beratungsunternehmen arbeitete Dr. Deerberg-Wittram als Kaufmännischer Leiter und später als Geschäftsführer für eine großes private Klinikkette. Sein besonderes Interesse an der medizinischen Qualitätsmessung und dem Management von Gesundheitsunternehmen hat er seit 2012 als Senior Fellow und Fakultätsmitglied der Harvard Business School vertieft. In den USA hat er mit der Harvard Universität, dem Karolinska-Institut und der Boston Consulting Group das International Consortium for Health Outcomes Measurement (ICHOM), ein Institut zur medizinischen Ergebnismessung aufgebaut, dessen Messstandards heute von der OECD empfohlen werden. In den letzten Jahren hat Dr. Deerberg-Wittram als Berater für Krankenhäuser und Unternehmen des Gesundheitswesens im In- und Ausland zusammengearbeitet.
Veranstaltungshinweis:
Freitag, 27. September 2019, 10:00-11:00 Uhr
Raum: Rosenheim
Session: Symposium 1
Patientenorientierung im Gesundheitswesen – Was ist „Value Based Health Care“?
Dr. Jens Deerberg-Wittram (Rosenheim)
25.09.2019