News • Neuer Forschungsbereich
„Systemmedizin“: Ein ganzheitlicher Blick auf komplexe Krankheitsprozesse
Das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) erweitert seine Forschungsaktivitäten um den Bereich der „Systemmedizin“. Im Fokus steht das Beziehungsgeflecht der Mechanismen von Hirnerkrankungen.
Erkenntnisse darüber sollen den Weg für neue Behandlungsmöglichkeiten ebnen – insbesondere für Therapien, die individuell maßgeschneidert sind. Direktor des neuen Forschungsbereichs ist der Bonner Genomforscher und Immunologe Joachim Schultze. „Die Systemmedizin begreift Erkrankungen als komplexe Geschehnisse und betrachtet sie in ihrer Gesamtheit. Es geht um den Blick auf das große Ganze und um die Frage, wie Krankheitsmechanismen miteinander zusammenhängen. Dieser Ansatz ist noch relativ jung, findet aber Einzug in immer mehr Bereiche der medizinischen Forschung“, sagt Schultze, bislang schon Arbeitsgruppenleiter am DZNE sowie Professor an der Universität Bonn. „Ziel ist es, das System zu verstehen. Wobei System ein skalierbarer Begriff ist. Je nach Fragestellung kann es um eine Zelle gehen, das Gehirn, die Wirkung von Umweltfaktoren auf das Genom oder um andere Systeme oder Beziehungsgeflechte, die für eine Erkrankung von Bedeutung ist. Im Fokus steht dabei nicht der eine spezielle Krankheitsprozess. Es geht immer darum, ein solches Element im größeren Kontext zu sehen.“
Wir wollen Algorithmen der künstlichen Intelligenz beispielsweise darauf trainieren, krankhafte Veränderungen des Gehirns zu erkennen
Joachim Schultze
Innerhalb des DZNE arbeiten verschiedene Forschungsbereiche vernetzt daran, die Ursachen von Erkrankungen des Gehirns und des Nervensystems zu erforschen. Der neue Forschungsbereich wird die bisherigen Schwerpunkte des DZNE – Grundlagenforschung, Klinische Forschung, Populationsbezogene Gesundheitsforschung und Versorgungsforschung – ergänzen. „Hier wird es einen regen Austausch und viele Anknüpfungspunkte geben“, sagt Schultze.
In der Systemmedizin kommen neueste Untersuchungsmethoden der labororientierten Forschung und der Medizin zur Anwendung. Überdies profitiert diese Disziplin von Entwicklungen der Computer- und Software-Technologie. „Das DZNE nutzt bereits solche Ressourcen und einige unserer Forschungsgruppen sind bereits systemorientiert ausgerichtet. Sie bilden quasi die Keimzelle unseres neuen Forschungsbereichs, den wir langfristig weiterentwickeln wollen“, sagt Schultze.
In den neuen Forschungsbereich wird insbesondere die Expertise des DZNE in der Analyse einzelner Zellen und anderer sogenannter OMICs-Technologien einfließen. „Diese Verfahren gestatten detaillierte Einblicke in molekulare Vorgänge, beispielweise in die Aktivität sämtlicher Gene innerhalb einer Zelle. Man pickt sich also nicht ein einzelnes Gen heraus, sondern betrachtet die Genaktivität in ihrer Gesamtheit“, so Schultze. Solche Daten können helfen, Patienten verschiedenen Krankheitsstadien oder Krankheitsvarianten zuzuordnen, erläutert er. „Das ist wiederum hilfreich für die Diagnose und die Therapie. Je genauer ich den Krankheitszustand kenne, umso präziser kann ich behandeln. Das ist ein Beispiel für personalisierte Medizin. Solche passgenauen medizinischen Maßnahmen wollen wir für Erkrankungen wie Alzheimer, Parkinson oder ALS auf den Weg bringen.“
Profitieren wird der neue Forschungsbereich auch von der Erfahrung des DZNE in den Bereichen künstlicher Intelligenz und Memory-Driven Computing. Dabei geht es um die Analyse großer Datenmengen, wie etwa Genomdaten oder Hirnscans. „Wir wollen Algorithmen der künstlichen Intelligenz beispielsweise darauf trainieren, krankhafte Veränderungen des Gehirns zu erkennen. Solche digitalen Hilfsmittel könnten die Diagnose unterstützen und verbessern“, so Schultze.
Langfristig möchte der Bonner Forscher auch Daten aus mobilen Geräten in die systemmedizinische Forschung des DZNE integrieren. „Mit Laborverfahren kann man molekulare Vorgänge aufklären. In der Medizin kann man aber auch viel über bloße Beobachtung herausfinden. Beobachtung hat einen wesentlichen Anteil an der medizinischen Diagnose. Und heute gibt es Smartphones und andere mobile Geräte, mit denen sich zum Beispiel der Schlafrhythmus oder andere Verhaltensweise erfassen lassen“, sagt Schultze. „Derlei Informationen könnten möglicherweise helfen, mehr über neurodegenerative Erkrankungen zu erfahren und eine Früherkennung ermöglichen.“
Grundsätzlich biete die Digitalisierung für die medizinische Forschung enorme Möglichkeiten, so Schultze. „Selbstverständlich muss man dafür alle Beteiligten mitnehmen und den Datenschutz berücksichtigen. Über die Potenziale der Systemmedizin brauchen wir eine gesellschaftliche Debatte. Hier sehe ich die Wissenschaft in der Bringschuld. Wir müssen informieren, uns aber auch der Diskussion stellen.“
Quelle: Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE)
14.09.2020