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Säuglingssterblichkeit: DGPM fordert „Nationalen Plan zur Geburtshilfe“

Wie der aktuelle UNICEF-Bericht zur Säuglingssterblichkeit zeigt, schneidet Deutschland im weltweiten Vergleich zur Säuglingssterblichkeit überraschend schlecht ab.

Quelle: Pixabay/sherwood

Während beim Spitzenreiter Japan nur eins von 1.111 Neugeborenen stirbt, ist es jeder 435. Säugling in Deutschland, das heißt: zwei von 1000 Neugeborenen überleben den ersten Monat nicht. Deutschland liegt mit Platz 12 zwar im ersten Drittel, gehört aber nicht zu den Top-Ländern wie Australien, Singapur oder den nordeuropäischen Ländern. Prof. Dr. Franz Kainer, Nürnberg, Präsident der Deutschen Gesellschaft für perinatale Medizin (DGPM), macht deutlich, dass ein strukturelles Problem dahintersteckt und kritisiert scharf das Koalitionspapier der GroKo, durch das der Trend zur hohen Säuglingssterblichkeit in Deutschland noch weiter verstärkt würde. Mit einem „Nationalen Plan für Geburtshilfe“ könnte Deutschland mit dem qualitativ hohen Know-How in diesem Bereich ohne Weiteres einen der ersten Plätze im internationalen Vergleich einnehmen.

Woran liegt es, dass 11 andere Länder im Bezug auf Säuglingssterblichkeit das hochentwickelte und finanziell gut ausgestattete Deutschland toppen?

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Prof. Dr. med. Franz Kainer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin.
Quelle: DGPM

Prof. Kainer: Zunächst einmal muss festgestellt werden, dass es keine allgemeingültige Definition zur „Säuglingssterblichkeit“ gibt, das wird weltweit unterschiedlich gesehen und insoweit ist die UNICEF-Statistik in Frage zu stellen. Was in Deutschland ab der 23. Schwangerschaftswoche als Geburt behandelt wird, also als lebend geborener Säugling, zählt woanders gar nicht mit, wird vor der 25. Schwangerschaftswoche in verschiedenen andern Ländern als Abort gerechnet. Das spielt schon eine große Rolle und ist wahrscheinlich ein Punkt, dass wir Deutschland schon etwas besser sind, als das in der aktuellen UNICEF-Statistik herauskommt. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir z. B. im Vergleich zu Finnland und Australien tatsächlich schlechter aufgestellt sind. Dass wir im Mittelfeld stehen und nicht in der Spitzenreiterposition, ist allerdings kein medizinisches Problem, sondern ein politisches. Die Politik muss das mit in die Hand nehmen und strukturelle Bedingungen schaffen, dass bei uns mehr Säuglinge überleben.

Was bedeutet das genau – wie sieht die Situation in deutschen Geburtskliniken konkret aus?

Gerade bei Kindern, die sehr früh geboren werden, spielt die Erfahrung sowie eine qualitativ gute Ausstattung mit Fachkräften eine große Rolle. Für solche Hochrisikofälle gibt es bei uns – z. B. im Vergleich mit Finnland – nur sehr wenige Geburtskliniken mit sehr hoher Expertise. Nur 16 der 700 Geburtskliniken in Deutschland haben mehr als 3000 Geburten im Jahr. Dagegen haben wir über 500 kleine Geburtsabteilungen, die nicht einmal auf 1000 Geburten kommen. Sie haben den Vorteil, dass sie wohnortnah sind – allerdings heißt das oft mit gravierenden Abstrichen in der Qualität, da sie nicht kostendeckend arbeiten können. Das bedeutet konkret, hier mangelt es an Hebammen, es fehlt an qualifizierten Ärzten und Ausstattung.

Erklärtes Ziel der GroKo ist der weitere Ausbau der wohnortnahen Geburtshilfe. Ist das ein Schritt in die richtige Richtung?

Für Deutschland wäre es sinnvoll, dass einerseits genügend große Zentren für Hochrisikogeburten zur Verfügung stehen und andererseits kleine Kliniken so ausgestattet werden, dass die Qualität stimmt – auch wenn sie dann nicht kostendeckend sind

Franz Kainer

Keineswegs, ganz im Gegenteil. Solange kleine Geburtskliniken finanziell so schlecht ausgestattet sind, sind sie nicht in der Lage, jederzeit adäquat auf einen Notfall zu reagieren. Wenn die Politik vorgibt, dass Qualität keine Rolle spielt, werden weiterhin in Deutschland ein paar hundert Kinder mehr versterben, die überleben könnten. Damit nehmen wir weiterhin Todesfälle in Kauf, die nicht sein müssten! Für Deutschland wäre es sinnvoll, dass einerseits genügend große Zentren für Hochrisikogeburten zur Verfügung stehen und andererseits kleine Kliniken so ausgestattet werden, dass die Qualität stimmt – auch wenn sie dann nicht kostendeckend sind. Hier ist die Politik gefragt, mehr große Geburtszentren zu schaffen und kleine Häuser entweder finanziell besser zu stellen oder ganz zu schließen. Dazu bedarf es aber bundesweit eines strukturellen Plans. Der Vorschlag der DGPM ist ein „Nationaler Plan für Geburtshilfe“: Damit könnten wir in Deutschland mit unserem qualitativ hohen Know-How in diesem Bereich im internationalen Vergleich ganz anders dastehen. Wir sind der Meinung, dass Qualität eine entscheidende Rolle spielt und dass Kinderleben das wert sind.

Wie könnten die weiteren Schritte für diesen „Nationalen Plan für Geburtshilfe“ aussehen?

Wenn wir besser werden wollen, müssen wir mit einem bundesweiten Konzept an vernünftigen Strukturen arbeiten. Der erste Schritt wäre festzulegen: Wo fehlen noch Kliniken mit entsprechend hohem Niveau? Wieviele Top-Zentren brauchen wir? Wo müssen wir kleine Kliniken besser finanzieren, damit die Qualiatät stimmt? Der zweite Schritt wäre zu entscheiden, wieviele Geburtskliniken mit hoher Qualität benötigt werden, um eine optimale Versorgung der Schwangeren ohne Risiken zu betreuen. Nur durch eine sinnvolle Strukturierung wird es auch in Zukunft möglich sein, ausreichend Pflegepersonal, Hebammen und Ärzte zur Verfügung zu haben. Der Pflegenotsand und der Hebammenmangel hat auch die Großstädte erreicht. Eine Senkung der zu hohen Sektioraten und die Förderung der physiologischen Geburt wird nur durch die Etablierung von Geburtskliniken möglich sein, in denen ein Hebammen-und Ärzteteam 24 Stunden vor Ort ist. Mit dem Vorschlag der GroKo-Empfehlung zur Stärkung des Belegarztwesens erreicht man das Gegenteil. Mit einem solchen „Nationalen Geburtshilfeplan“ könnten wir im weltweiten Vergleich der Säuglingssterblichkeit ganz klar einen Spitzenplatz einnehmen!


Quelle: DGPM/Conventus/Kerstin Aldenhoff

22.02.2018

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