Neues aus der Schlaganfallforschung
Aktuelle Forschungsergebnisse eröffnen völlig neue Perspektiven im Verständnis der molekularen und zellulären Mechanismen, die beim Schlaganfall wirksam werden – einer der häufigsten und schwerwiegendsten Erkrankungen unserer Zeit. Auf dem ENS 2011 kritisierten Experten jedoch die schwache finanzielle Ausstattung der Forschung, die nötig ist, um diese Erkenntnisse in klinisch anwendbare Therapien weiterzuentwickeln.
Der Schlaganfall ist weltweit eine der häufigsten Ursachen für Tod und lebenslange Behinderung, eine enorme Belastung für die betroffenen Familien und Gesundheitssysteme. „In den vergangenen zehn Jahren haben wir unter anderem in unserem Verständnis der molekularen und zellulären Mechanismen des Schlaganfalls atemberaubende Fortschritte gemacht“, so Prof. José Manuel Ferro, Leiter der Abteilung für Neurowissenschaften an der Universität Lissabon, heute auf der 21. Jahrestagung der Europäischen Neurologen-Gesellschaft (ENS). Mehr als 3.200 Neurologie-Expert/-innen aus aller Welt diskutieren derzeit in der portugiesischen Hauptstadt aktuelle Erkenntnisse aus ihrem Fachgebiet.
Fortschritte gibt es etwa, was das Verständnis der sogenannten Reperfusionsschäden betrifft, also von Schlaganfällen, die trotz rechtzeitiger Thrombolyse weiter fortschreiten, oder bei vielversprechenden Ansätzen, beschädigte Areale des Gehirns durch bestimmte Typen von Stammzellen zu reparieren. Neue Erkenntnisse gibt es auch über das potentiell tödliche Wechselspiel zwischen Zentralnervensystem und Immunsystem während eines Schlaganfalls und über bereits weit entwickelte Methoden, das vom Schlaganfall getroffene Gehirn vor bleibenden Schäden zu bewahren, wie etwa Hypothermie. „Diese neuen Erkenntnisse zu klinisch anwendbaren Therapien weiterzuentwickeln wird Leben retten, Behinderungen verhindern und die Gesundheitskosten reduzieren. Doch trotz dieser Vorteile und des Faktums, dass die sozioökonomische Belastung durch Schlaganfälle nicht geringer ist als jene durch Krebs, AIDS oder Alzheimer, wird die Schlaganfall-Forschung weit weniger gefördert", betonte Prof. Ferro. „Wir appellieren daher an alle Verantwortlichen, hier umzudenken. Schlaganfall ist eine vermeidbare Erkrankung, und unter der Voraussetzung ausreichender Forschungsförderung können wir schon in den nächsten Jahren wichtige Durchbrüche erwarten.“
Den Ursachen von Reperfusionsschäden auf der Spur
Wie es zu Reperfusionsschäden kommen kann – dem häufigen Phänomen des Fortschreitens eines Schlaganfalls trotz frühzeitiger Öffnung der verstopften Gefäße etwa durch thrombolytische Medikamente – war lange ein Rätsel. Eine Studie der Universität Würzburg, die auf der ENS-Tagung vorgestellt wird, zeigt jetzt die zugrundeliegenden Mechanismen auf und könnte den Weg zur Entwicklung neuer Therapien ebnen. Versuche mit Mäusen legen nahe, dass die thrombolytische Öffnung großer Gefäße die Bildung von Thrombosen auf mikrovaskulärer Ebene in Verbindung mit entzündlichen Prozessen nicht verhindern kann. Die Forscher/-innen entdeckten auch multifunktionale Moleküle, die sowohl an der Entzündung als auch an der Zusammenballung von Blutplättchen beteiligt sind. Letztere dient dem Verschluss von Wunden, blockiert damit in kleineren Gefäßen aber auch den Blutfluss. Diese Moleküle zu beeinflussen könnte ein künftiger Therapieansatz sein, um sowohl die Thrombenbildung als auch die Entzündungsprozesse zu bekämpfen.
Stammzellen zur Reparatur geschädigter Gehirnareale
So wie auf andere Verletzungen reagiert der menschliche Organismus auch auf Gehirnschäden mit Selbstreparaturmechanismen, die in der Ausschüttung von Stammzellen im Knochenmark bestehen, welche sich am Ort der Verletzung in neue Neuronen, Blutgefäße und Synapsen ausdifferenzieren. Wissenschaftler/-innen vermuten schon lange, dass die Gabe zusätzlicher Stammzellen diese Reparaturprozesse verstärken und beschleunigen und dadurch die Behinderungsfolgen eines Schlaganfalls mildern könnte. Neue Erkenntnisse von Forscher/-innen am Universitätskrankenhaus La Paz in Madrid (Spanien), die auf der ENS-Tagung vorgestellt wurden, bringen diesen Ansatz einer wirksamen klinischen Anwendung einen großen Schritt näher. Bisher nur im Tierversuch getestet, erwiesen sich Injektionen neuronaler Stammzellen sowie mesenchymaler Stammzellen aus dem Knochenmark erstmals auch am Menschen als sicher und durchführbar. In Verbindung mit weiteren Forschungsergebnissen, die nach der Injektion von Stammzellen bei Mäusen eine Verminderung des Zelltodes und eine verstärkte Produktion neuronaler und vaskulärer Zellen gezeigt haben, eröffnet dies den Weg für vielversprechende sogenannte Phase-III-Studien, um die Auswirkungen von Stammzellen auf den Verlauf von Schlaganfällen an menschlichen Patient/-innen zu erforschen. Es besteht die Hoffnung, dass diese in neue therapeutische Strategien zur Unterstützung der Selbstheilungsprozesse des Gehirns und zur Reduktion der nach einem Schlaganfall verbleibenden Dauerschäden münden werden.
Neue Einsichten in das Wechselspiel zwischen Schlaganfällen und Immunsystem ermöglichen bessere Prävention
Ein weiterer Bereich der Schlaganfallforschung bezieht sich auf das komplexe Wechselspiel zwischen Immunsystem und Zentralnervensystem mit dem Gehirn als seiner entscheidenden Schaltstelle. Jüngste Forschungen, die auf der Jahrestagung zusammengefasst wurden, zeigen, dass sowohl hochaktive akute als auch auf niedrigem Niveau dahin schwelende chronische Infektionen das Schlaganfallrisiko erhöhen, und dass hochaktive Akutinfektionen zu einer alarmierend schlechten Prognose führen. Der Schlaganfall selbst führt zu einer vorübergehenden Unterdrückung des Immunsystems, die in ihrem Ausmaß der Größe der Gehirnverletzung entspricht. Dies erklärt, warum viele Patient/-innen nicht an durch den Schlaganfall bedingten Hinrschäden, sondern an sekundären Infektionen versterben, die das unterdrückte Immunsystem nicht bekämpfen kann. „Während wir noch intensive Forschung benötigen, um herauszufinden, wie sich die Immunsuppression nach einem Schlaganfall verhindern lässt, können wir bereits viel zu seiner Vorbeugung tun“, so Prof. Ferro. „Im Wissen, dass Infektionen Schlaganfälle fördern, benötigen wir ihnen gegenüber schon auf der Ebene der primären Gesundheitsversorgung verstärkte Aufmerksamkeit, auch vonseiten der Krankenversicherungen. Nützliche Präventivmaßnahmen wären etwa wirksamere Impfprogramme, die konsequentere Behandlung wiederkehrender Infektionen und – nicht zuletzt – ein verbesserter Zugang zur Zahnheilkunde. Parodontose ist eine der häufigsten chronischen Infektionen, die das Schlaganfallrisiko erhöhen.“
Hypothermie zur Verhinderung bleibender Gehirnschäden: Weitere Detailstudien nötig
Weit fortgeschritten ist die Forschung zur Minimierung der Schlaganfallfolgen durch Hypothermie. Dieses Verfahren verlangsamt den Stoffwechsel und damit das Fortschreiten eines neuronalen Gehirnschadens durch die Abkühlung des Blutes des Patienten auf etwa 32° bis 34°C. „In der Verbesserung des neurologischen Verlaufs bei Überlebenden eines Herzstillstandes und bei Kindern, die durch Unterversorgung mit Sauerstoff einen Gehirnschaden erlitten haben, hat Hypothermie seine neuroprotektiven Eigenschaften bereits unter Beweis gestellt“, berichtet Prof. Ferro. „Auf der heutigen Tagung wurden vielversprechende Resultate der Anwendung von Hypothermie bei akuten ischämischen Schlaganfällen vorgestellt. Wie erwartet, erwies sie sich als durchführbar und sicher. Um sie jedoch in der klinischen Praxis optimal einzusetzen müssen wir noch wichtige Details wie Tiefe, Dauer, die beste Kühlmethode sowie mögliche Nebenwirkungen erforschen.“
Geld bleibt der Schlüssel für die klinische Anwendbarkeit
„Zusammengefasst können wir von wichtigen neuen Erkenntnissen berichten, die schon in den nächsten Jahren zu neuen Therapien und Präventionsstrategien führen können. Knackpunkt dieser Forschungen bleibt jedoch ihre Finanzierung,“ so Prof. Ferro. „Wir hoffen, dass dieser Kongress dazu beitragen wird, sie voranzubringen. Auch in Zeiten finanzieller Krise müssen wir darauf achten, dass heute getätigte Investitionen in die Schlaganfallforschung wesentlich höhere Kosten in der Zukunft vermeiden, ganz abgesehen vom unnötigen Leiden der Betroffenen.“
01.06.2011