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Kognitive Chirurgie – Ein steiniger Weg
Dass sich die Chirurgie in Zukunft verändern wird, zeichnet sich vor dem Hintergrund von Herausforderungen wie Big Data deutlich ab. Doch wie weit diese Veränderungen greifen werden, ist derzeit kaum überschaubar. Ein relativ junges Forschungsfeld befasst sich mit der umfassenden Vernetzung aller bei einer Operation eingesetzten Komponenten. Professor Beat Müller, Mitinitiator des von der Deutschen Forschungsgesellschaft geförderten Projektes „Cognition-Guided Surgery“, verrät im Gespräch, was bereits umgesetzt wurde und wo die Herausforderungen liegen.
Report: Marcel Rasch
Griff man früher auf ein einzelnes Röntgenbild zurück, sind es heute CT-Bilder, Endoskopie-Bilder, Laborparameter und histologische Parameter, die man früher noch nicht kannte.
Professor Beat Müller
Die Idee der kognitiven Chirurgie ist es, Entscheidungen während einer Operation computergestützt und wissensbasiert zu treffen. Hierzu werden geeignete Aktionen bei der Planung und Durchführung von Operationen kontextsensitiv aus einer Datenbank mit „computerverständlich“ abgelegtem Fakten- und Erfahrungswissen abgeleitet. „Im Idealfall funktioniert dies wie beim kognitiven Automobil. Während wir im Wagen sitzen und durch die Gegend fahren, merken wir oft gar nicht, dass im Hintergrund eine Technologie die Fahrspur, das Fahrwerk und vieles mehr kontrolliert. Bei Problemen werden einfach Warnungen angezeigt. Und im Idealfall fährt das kognitive Automobil ganz unabhängig vom Fahrer“, erklärt Müller bildhaft.
Das menschliche Gehirn kann nur etwa sieben Informationen gleichzeitig verarbeiten, beziehungsweise auf diese zurückgreifen. Für einen Computer hingegen sind große Datenbanken kein Problem. Die Herausforderung liegt jedoch darin, ihm die adäquate Interpretation unterschiedlichster Informationen beizubringen. „In der Chirurgie haben wir es mit enorm vielen Informationen zu tun“, erläutert Müller und verdeutlicht: „Wir generieren täglich in tausenden Publikationen neue Erkenntnisse und gewinnen zusätzliche Erkenntnisse aus der Diagnostik, die ihrerseits immer komplexer wird. Griff man früher auf ein einzelnes Röntgenbild zurück, sind es heute CT-Bilder, Endoskopie-Bilder, Laborparameter und histologische Parameter, die man früher noch nicht kannte. Diese gesammelten Informationen am Ende zu einer guten Entscheidung zusammenzuführen, ist eine komplexe ärztliche Kunst. Leider werden jedoch von Zeit zu Zeit auch falsche Entscheidungen getroffen. Die Idee der kognitiven Chirurgie ist, dass ein System schlussendlich mithilft, bessere Entscheidungen zu treffen.“
Erste Umsetzungen
Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. So wird man nicht nur auf Big Data zurückgreifen und Analysetools implementieren, sondern einen weiteren entscheidenden Faktor berücksichtigen müssen. Der Spezialist erläutert: „Ganz entscheidend ist die Fähigkeit des Computers, zu lernen. Dabei muss sowohl Faktenwissen, also das Wissen, das wir in Lehrbüchern nachlesen können, als auch Erfahrungswissen, das durch die Historie der behandelten Fälle entstanden ist, im Computer verwertbar in einer sogenannten Wissensbasis abgelegt werden. Das System selbstständig dazu. „Ziel ist es, dass das System aufgrund negativer Erfahrungswerte mit einer bestimmten Vorgehensweise, diese beim nächsten Eingriff nicht mehr vorschlägt. Stattdessen soll eine Vorgehensweise vorgeschlagen werden, bei der die Erfolgschancen größer sind“, führt Müller aus.
Dass ein solches System funktionieren könnte, zeigt eine Initiative, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) von 2012 bis 2016 gefördert wurde. „Mit dem Sonderforschungsbereich Transregio 125 „Cognition-Guided Surgery“ haben wir zusammen mit mehreren Forschungspartnern aus dem Deutschen Krebszentrum und dem Karlsruher Institut für Technologie diverse Aspekte einer solchen Idee erforscht“, berichtet Müller.
So wurde im Rahmen des Projekts ein lernfähiger autonomer Kameraführungsroboter entwickelt. „Wenn der Computer die Kamera während eines Eingriffs richtig geführt hat und vom Chirurg nicht korrigiert wurde, dann hat er diese Erfahrung als positiv gespeichert. Wurde er hingegen korrigiert, hat er diese Korrektur als Verbesserung aufgenommen“, erläutert Müller. Auf diese Weise lernte das System nach und nach, welche Kameraposition optimal war.
Zahlreiche Herausforderungen warten
Doch noch gibt es viele Herausforderungen zu meistern. „Man darf nicht vergessen, dass wir ganz am Anfang dieses jungen Forschungsfeldes stehen“, dämpft Müller die Erwartungen. „Wir stehen einerseits vor der Herausforderung, dem Computer die benötigten Informationen zur Verfügung zu stellen und ihm das Wissen, über das wir verfügen, verständlich zu machen. Einfach ausgedrückt: Wenn wir ein Röntgenbild anschauen, dann verstehen wir bei entsprechenden Ausbildung und Erfahrung, was wir sehen. Je mehr Röntgenbilder wir betrachten, desto mehr lernen wir dazu. Der Computer muss das genauso lernen.“
Hinzu komme laut Müller noch eine zweite Herausforderung. Ein Computer sei zwar gut in statistischen Auswertungen, semantische Bewertungen jedoch seien eine große Hürde. „Wir reden hier vom modellbasierten Vorgehen oder musterbasierten Vorgehen“, erläutert der Chirurg. „Es geht also nicht nur um die Datenaufnahme, sondern auch um die Perzeption und Bewertung dieser Daten.“
Eine dritte Schwierigkeit sei die Validierung des Systems. „Der Computer muss zeigen, dass das, was er aufgrund des Gelernten vorschlägt, tatsächlich auch besser ist. Der Mensch lernt durch Erfolg und Misserfolg, beim Computer ist dies kleinschrittiger. Wenn das System einmal nicht korrigiert wurde, speichert es diese Erfahrung als positiv ab, obwohl es durchaus andere Gründe für eine nicht erfolgte Korrektur geben kann. Wir müssen also sicherstellen, dass das System nicht nur selbstständig lernt, sondern auch dass es sich auch tatsächlich verbessert. Falsche Lernansätze könnten am Ende in falsche Therapievorschläge münden. Das Schlimmste, was passieren könnte, wäre, dass wir nicht merken, wenn der Chirurg mit Computeruntersützung schlechter ist, als ohne“, mahnt Müller.
Die Vision jedoch bleibt. „Das Potenzial, die Chirurgie sicherer und effizienter zu machen, ist groß“, philosophiert Müller. Noch seien lediglich überschaubare Einzellösungen verfügbar und für große Forschungsprojekte fehle es an interdisziplinären Forschungspartnern. „Bleiben wir beim Beispiel des kognitiven Automobils. Hier gibt es bereits vermarktungsfähige Lösungen, für die das Kaufargument lautet, dass es sicherer sei, mit einem solchen Fahrzeug zu fahren als ohne. Dies würde ich mir für die Chirurgie ebenfalls wünschen.“
Profil:
Prof. Dr. Beat Müller ist erster Oberarzt und Sektionsleiter für Minimal Invasive und Adipositaschirurgie an der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie des Universitätsklinikums Heidelberg. Ein Schwerpunkt seines Forschungsinteresses liegt in der computerbasierten Chirurgie. So war er wissenschaftlicher Leiter von verschiedenen interdisziplinären Verbundprojekten wie dem Graduiertenkolleg 1126 „Intelligente Chirurgie“ und dem Sonderforschungsbereich/Transregio 125 „Cognition-Guided Surgery“, die beide unter seiner Federführung von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) bis 2014 bzw. 2016 gefördert wurden. Außerdem ist er an den Projekten InnOPlan (Innovative, datengetriebene Effizienz OP-übergreifender Prozesslandschaften), das im Rahmen der BMWi-Ausschreibung „Smart Data – Innovationen aus Daten gefördert wird, und COMBIOSCOPY (Computational biophotonics in endoscopic cancer diagnosis and therapy), das von der EU gefördert wird, als chirurgischer Partner maßgeblich beteiligt.
Weiterführende Informationen zum Thema:
http://www.cognitionguidedsurgery.de
http://rob.ipr.kit.edu/837_1586.php
19.08.2016