Eine europäische Heimat für die Notfalldiagnostik
In diesem Jahr wird die neu gegründete European Society of Emergency Radiology (ESER) erstmalig auf dem RöKo vertreten sein. Dass die Notfalldiagnostik einen Schwerpunkt der diesjährigen Tagung bildet, ist kein Zufall. Denn kaum ein anderes Teilgebiet der Radiologie gewinnt so rasend schnell an Bedeutung.
So liegen die Zuwachsraten der radiologischen bildgebenden Verfahren in der Notfallmedizin zwischen 10 und 15 Prozent pro Jahr. Dadurch steigt auch der dringende Bedarf, das Know-how um die Notfallradiologie zu bündeln. Diese Aufgabe übernimmt seit Oktober 2011 die unter dem Dach der European Society of Radiology (ESR) agierende ESER, die aus dem Engagement von über 25 EU-Gründungsmitgliedern hervorging. Darunter auch Priv.-Doz. Dr. Ulrich Linsenmaier, Chefarzt am Institut für Diagnostische und Interventionelle Radiologie an den Kliniken München-Pasing, München-Perlach und Augustinum München.
Dr. Linsenmaier, warum braucht Europa eine eigene Gesellschaft für die Notfallradiologie?
Ulrich Linsenmaier: Der Wunsch, die Ressourcen in Lehre, Forschung und Wissenschaft europaweit zu bündeln, besteht schon seit langer Zeit. Die Notfallradiologie hat sich nicht zuletzt durch die technischen Innovationen im Bereich der MDCT und der Ganzkörperuntersuchungen dramatisch entwickelt. Deshalb brauchten wir dringend eine Plattform, die alle Kollegen anspricht, die sich in ihrem Arbeitsalltag vermehrt mit der Notfalldiagnostik konfrontiert sehen. Bisher hatten Europäer nur die Möglichkeit, in der American Society for Emergency Radiology (ASER) unterzukommen. In den USA blickt die Notfallradiologie auf eine 25-jährige Tradition zurück.
Wieso ist das in Deutschland anders?
Das hat verschiedene Gründe. Unter anderem liegt es an den Organisationsstrukturen der radiologischen Gesellschaften und der Infrastruktur in den Krankenhäusern. In den USA ist die Notfallradiologie aus den hoch spezialisierten Unfallkliniken entstanden. In deutschen Häusern mussten wir lange kämpfen, bis die Radiologie Tür an Tür mit Notaufnahme, Schockraum und OP gerückt und dadurch auch zu einer klinischen Disziplin geworden ist. Wenn wir allerdings nach Europa schauen, gibt es auch hier schon sehr starke Notfallradiologien mit mehreren Hundert Mitgliedern, zum Beispiel in Italien und Spanien.
Welche Ziele verfolgt die ESER?
Wir verfolgen einen prozessorientierten Ansatz. Das stellt einen großen Innovationsschritt in der Radiologie dar, denn die bisherige Subspezialisierung bezog sich auf anatomische beziehungsweise organbezogene Fragestellungen. Der Notfallpatient kommt jedoch mit einem komplexen Krankheitsbild in unsere Abteilung. Prozessorientiert heißt also, dass wir ein Konzept entwickeln, das alle Teilgebiete vom Schädel über Thorax und Abdomen bis zum muskuloskelettalen System abbildet. Wir verstehen uns dabei nicht in Konkurrenz zu anderen Fachgesellschaften, sondern möchten die spezifischen Ressourcen der Notfalldiagnostik bündeln.
Gibt es bereits ein Leitlinienprogramm?
Zurzeit arbeiten wir an einem europäischen Lehrbuch. Es wird in drei Bänden veröffentlicht und deckt die gesamten Fragestellungen rund um die Notfallradiologie ab. Der erste Band zum Abdomen ist bereits 2012 beim Springer Verlag erschienen. Band zwei wird sich dem Thorax und dem kardiovaskulären System widmen und Band drei wird die Bereiche Schädel und Wirbelsäule abdecken. Wir sind außerdem stolz, dass wir im European Journal of Radiology eine eigene Sektion „Emergency radiology“ erhalten haben. Das ist das erste Mal, dass eine europäische Fachpublikation eine Subsektion für die Notfalldiagnostik eingerichtet hat.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Die ESER zählt bereits über 200 Mitglieder. Dennoch würde es mich freuen, wenn sich uns noch mehr deutsche Radiologen anschließen. Dann könnten wir eine nationale Untergruppe bilden, die die Themen der Notfalldiagnostik hierzulande kompetent vertritt. Deshalb möchte ich alle deutschen Kollegen herzlich zum ESER-Kongress einladen, der dieses Jahr vom 20. bis zum 21. Juni in Mailand stattfindet
Mehr Informationen unter: www.eser-society.org
IM PROFIL
Priv-Doz. Dr. Ulrich Linsenmaier, MD PhD, studierte Medizin in Italien, Deutschland und den USA, wo er auch die Arbeit in den großen amerikanischen Traumakliniken kennenlernte. Heute ist Linsenmaier als Chefarzt am Institut für Diagnostische und Interventionelle Radiologie an den Kliniken München-Pasing, München-Perlach und Augustinum München beschäftigt sowie Dozent an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Darüber hinaus ist er seit 2011 Präsident der European Society of Emergency Radiology (ESER) und widmet sich intensiv der radiologischen Notfalldiagnostik bei akut kranken oder verletzten Patienten. Dr. Linsenmaier ist zudem auch als Interventioneller Radiologe tätig, wiederum mit dem Schwerpunkt Notfallradiologie. Er hat über 80 Manuskripte und Bücher veröffentlicht.
30.05.2013