Demenz ist doch kein Beinbruch
Oder: wenn die Gehirnstörung unfreiwillig zur Nebensache gerät
Wer gerade mit zunehmendem Alter mal einen Namen oder ein Datum vergisst, der ist nicht gleich dement.
Dennoch entwickeln sich fortschreitende, unheilbare Gedächtnisstörungen in einer älterwerdenden Gesellschaft immer mehr vom Randphänomen zum Volksleiden. Wo aber verlaufen die Grenzen zwischen normaler Zerstreutheit und pathologischer Vergesslichkeit? Für eine differenzierte Diagnostik ist der behandelnde Arzt auf den Rat des Radiologen und des Nuklearmediziners angewiesen. Doch dieser Rat ist häufig teuer. Zu teuer für die Budgetlimits der Ärzte?
Der renommierte Demenzforscher, Neurologe und Bildgebungsexperte Prof. Dr. Andreas H. Jacobs, Direktor des European Institute for Molecular Imaging an der Universität Münster und Chefarzt der Klinik für Geriatrie im Johanniter-Krankenhaus Bonn, kennt das Problem. Da wird ein Patient mit einem gebrochenen Bein stationär eingeliefert und auf der Krankenakte steht in einem Halbsatz die Nebendiagnose „Demenz“. Spricht man dann mit dem Hausarzt des Betroffenen, stellt sich heraus, dass viele Untersuchungen zur Ursachenabklärung und -zuordnung der diagnostischen Demenz bisher nicht durchgeführt wurden. Dabei ist die differenzialdiagnostische Abklärung einer Gedächtnisstörung nicht weiter kompliziert. Sie besteht hauptsächlich aus der Analyse von Laborwerten und bildgebenden Verfahren.
„Was jedoch häufig im ambulanten Bereich zum Problem wird, ist die Einhaltung des vorgegebenen Praxisbudgets durch die Krankenkassen“, meint Prof. Jacobs. „Deshalb wird oft eine Computertomographie (CT) angeordnet, obwohl eine Kernspintomographie (MRT) oder eine Positronenemissionstomographie (PET) für eine zuverlässige Klärung der Krankheitssymptome einer Demenz besser geeignet wären.“ Mit fatalen Folgen für die Patienten, die unzureichend behandelt werden. Dabei können unterschiedlichste Ursachen für eine Einschränkung der Gedächtnisleistung verantwortlich sein und dadurch sehr verschiedene Therapiearten erfordern. Eine Einschränkung der Gedächtnisleistung durch einen Vitaminmangel bedarf beispielsweise einer anderen Behandlung als ein Multiinfarktsyndrom. Dafür muss jedoch im ersten Schritt erst einmal eine ausführliche Primärdiagnose gestellt werden.
„Die radiologische Bildgebung dient in erster Linie dazu, reversible von irreversiblen Demenzerkrankungen zu unterscheiden“, erklärt der Bonner Neurologe. „Dadurch lassen sich etwa Gehirntumoren, Schlaganfälle oder chronisch-entzündliche Prozesse als Ursachen ausschließen. Gleichzeitig lassen sich durch bestimmte strukturelle Veränderungen im Gehirn eindeutige Hinweise auf spezifische Demenzerkrankungen ablesen. So weist eine temporale Involution des Hippocampus in den koronalen Schichten mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine Alzheimer-Krankheit hin. Nuklearmedizinische PET-Verfahren können diesen Verdacht durch den Nachweis spezifischer Stoffwechselveränderungen und Eiweißablagerungen im Gehirn bestätigen.“ Der Professor weiß, wovon er spricht. Jahrelang leitete er das Labor für Gentherapie und Molekulare Bildgebung am Max-Planck-Institut für neurologische Forschung in Köln. Seine Arbeitsgruppe war eine der ersten weltweit, die die Umsetzung der molekularen Bildgebung in der klinischen Anwendung vorangetrieben hat.
„Sehr oft werden für solche weiterführenden Differenzialdiagnostiken bestimmter Alzheimer-Formen spezifische bildgebende Verfahren benötigt, die noch an der Grenze der klinischen Routine stehen“, fährt der Experte fort. „Das bedeutet, dass diese Techniken noch nicht von den Krankenkassen vergütet werden. Sie sind aber wichtig, um dem Neurologen Antwort darauf zu geben, ob beispielsweise eine Parkinson-Erkrankung mit Demenz oder eine Demenz mit Parkinson-Erkrankung vorliegt. Das ist ein gewaltiger Unterschied, der die therapeutische Herangehensweise entscheidend beeinflusst.“
Was rät der Neurologe also seinen Kollegen aus dem niedergelassenen Bereich, die mit der kurzen Leine der Budgetierung zu kämpfen haben? „Sie müssen mehr Durchsetzungsvermögen bei den Kostenträgern zeigen, damit eine vernünftige Diagnostik auch im ambulanten Bereich möglich wird. Wenn ein Patient mit einer neu aufgetretenen Gedächtnisstörung zu seinem Hausarzt geht, dann muss dieser einen gründlichen Check-up durchführen. Dazu gehören auch die richtigen Bilder. Nur mit einer genauen Diagnose ist eine gezielte Patientenversorgung und damit auch die Einsparung horrender Folgekosten für die Krankenkassen zu leisten.“
Im Profil
Prof. Dr. Andreas H. Jacobs, 48, beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Frage, wie sich gentherapeutische Verfahren mithilfe klinisch bildgebender Verfahren nachweisen lassen. In seiner Amtszeit als Präsident der European Society for Molecular Imaging (ESMI) brachte er das von der Europäischen Kommission mit 10,8 Millionen Euro geförderte Forschungsnetzwerk „DiMI – Diagnostic Molecular Imaging“ auf den Weg. Aktuell wird von ihm das mit 12 Millionen Euro geförderte EU-Projekt „INMiND – Imaging Neuroinflammation in Neurodegenerative Diseases“ geleitet. Parallel zu seinem Posten als Direktor des EIMI an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster nahm der gebürtige Bremer im Juli 2012 die Chefarztstelle der Klinik für Geriatrie am Johanniter-Krankenhaus in Bonnan– mit dem Ziel, Erkenntnisse der Grundlagenforschung auch in die praktische Patientenversorgung zu transferieren.
24.10.2012