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Assistierte Selbsttötung bei Krebs: Diskussionsbedarf bei Onkologen
Seit das Bundesverfassungsgericht im Februar 2020 den § 217 StGB zum Sterbehilfe-Verbot für verfassungswidrig erklärt hat, steht die Regelung der assistierten Selbsttötung und insbesondere die Rolle von Ärzten dabei im Mittelpunkt gesellschaftlicher, politischer, medizinischer und berufspolitischer Debatten.
Die DGHO Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie e. V. hatte sich bereits 2015 nach einem intensiven Austausch innerhalb der Fachgesellschaft in die Diskussion um die damals vorgelegten Gesetzesentwürfe eingebracht. Angesichts des nun bestehenden Regelungsbedarfs hat die DGHO erneut eine Diskussion unter ihren Mitgliedern angestoßen. Die aktuelle Umfrage, an der 750 Mitglieder teilgenommen haben, gibt einen Einblick in die aktuelle Situation in der Onkologie und schafft die Basis für praxisorientierte Regelungen, auch unter Berücksichtigung untergesetzlicher Lösungen.
Trotz großer Fortschritte in der Krebsmedizin verlaufen viele Tumorerkrankungen immer noch tödlich, so dass die medizinische Versorgung und Begleitung von an Krebs erkrankten Menschen in der letzten Lebensphase ein Kernbestandteil der Arbeit von onkologisch tätigen Ärzten ist. „Wir nehmen wahr, dass bei einigen Patientinnen und Patienten trotz optimaler palliativmedizinischer Betreuung der Wunsch besteht, ihrem Leben bei unerträglichem Leiden selbstbestimmt ein Ende zu setzen“, so Prof. Dr. Lorenz Trümper, Geschäftsführender Vorsitzender der DGHO und Direktor der Klinik für Hämatologie und Medizinische Onkologie der Universitätsmedizin Göttingen. „Vor dem Hintergrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts steht die ärztlich assistierte Selbsttötung erneut im Fokus von Debatten – unter anderem in der Politik und in der Ärzteschaft. Als medizinische Fachgesellschaft können und wollen wir die assistierte Selbsttötung nicht moralisch bewerten, weil wir die Wertevorstellungen aller unserer Mitglieder vertreten. In die aktuelle Debatte zu einer angemessenen politischen Regelung bringen wir uns ein, indem wir mit der erneuten Umfrage einen Einblick zu den Einstellungen, Erfahrungen und zur Handlungspraxis unter unseren Mitgliedern gewinnen. So ergänzen wir die aktuelle – teils auch sehr emotional geführte – Diskussion um die Perspektive praktisch tätiger Onkologinnen und Onkologen und deren Erfahrungen“, so Trümper weiter.
Die persönliche Einstellung zur ärztlich assistierten Selbsttötung unterscheidet sich auch unter praktisch tätigen Onkologen, berichtet Prof. Dr. Jan Schildmann, stellvertretender Vorsitzender des Arbeitskreises Medizin und Ethik der DGHO und Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg: „Entsprechend der gesellschaftlichen Debatte ist auch unter den Mitgliedern der DGHO die Haltung zur ärztlich assistierten Selbsttötung heterogen. Interessant ist allerdings die geringe Unterstützung für ein berufsrechtliches Verbot.“ Während die Anzahl der Kollegen, die eine ärztlich assistierte Selbsttötung grundsätzlich ablehnen, in etwa so groß ist wie die derer, die eine ärztlich assistierte Selbsttötung grundsätzlich oder unter bestimmten Bedingungen in Betracht ziehen, befürwortet lediglich jeder Vierte ein entsprechendes Verbot.
Etwa die Hälfte der Umfrageteilnehmenden ist in ihrem Berufsleben schon einmal um Informationen zum Vorgehen bei einer assistierten Selbsttötung gebeten worden. Bei der konkreten Frage nach einem Rezept für ein tödliches Medikament ist es hingegen nur noch ein Drittel der Befragten, und rechnerisch mehr als neun von zehn Umfrageteilnehmenden geben an, noch nie Assistenz zur Selbsttötung geleistet zu haben. Schildmann, der die Studie federführend umgesetzt hat, verweist darauf, dass es sich bei der assistierten Selbsttötung um kein Alltagsphänomen handelt: „Unsere Zahlen zur Praxis decken sich mit internationalen Daten, nach denen die assistierte Selbsttötung selten ist. Dies gilt auch für Länder, in denen sie unter bestimmten Bedingungen rechtlich möglich ist.“ Wichtig sind ihm Aus- und Weiterbildungsangebote für Ärzte zum professionellen Umgang mit Sterbewünschen. „Der angemessene Umgang mit den vergleichsweise häufigen Anfragen nach Sterbehilfe erfordert ethische und kommunikative Kompetenzen, die in der medizinischen Aus- und Weiterbildung vermittelt werden müssen“, so Schildmann.
Die Diskussion über die assistierte Selbsttötung fordert das ärztliche Selbstverständnis heraus. Es ist daher wichtig, in der Ärzteschaft zu diskutieren, welche Aufgaben aus welchen Gründen von Ärztinnen und Ärzten übernommen werden sollten
Jan Schildmann
Deutliche Prioritäten zeigen sich bei den Bedingungen, unter denen die befragten Onkologen eine Assistenz zur Selbsttötung erwägen würden. Hier werden ‚Freiverantwortlichkeit‘ und ‚unkontrollierbares Leiden‘ mit Abstand am häufigsten genannt. Bei der Frage, ob die Prüfung der Freiverantwortlichkeit als ärztliche Aufgabe verstanden wird, zeigt sich ein heterogenes Bild – wenn auch mit einer Tendenz. Etwa ein Viertel der Umfrageteilnehmenden gibt an, dass die Prüfung ausschließlich von Ärzten durchgeführt werden soll, knapp die Hälfte, dass die Prüfung von Ärzten durchgeführt werden kann, und nur jeder siebte Umfrageteilnehmende hält die Prüfung für keine ärztliche Aufgabe. „Die Diskussion über die assistierte Selbsttötung fordert das ärztliche Selbstverständnis heraus. Es ist daher wichtig, in der Ärzteschaft zu diskutieren, welche Aufgaben aus welchen Gründen von Ärztinnen und Ärzten übernommen werden sollten. Unbenommen davon ist, dass Ärztinnen und Ärzte eine Assistenz immer auch ablehnen können“, so Schildmann. Die Heterogenität bei der Bewertung der ärztlichen Rolle zeigt sich auch bei der Frage, wer ein tödliches Medikament abgeben sollte. Vier von zehn Befragten verstehen die Medikamentenabgabe als ärztliche Aufgabe, jeder Fünfte als optionale Aufgabe für Ärzte, und jeder Vierte gibt hingegen an, dass die Abgabe eines tödlichen Medikamentes nicht durch Ärzte erfolgen sollte.
Der Aussage, dass die Beratung von Patienten eine ärztliche Aufgabe ist, stimmt ein Drittel der befragten Onkologen zu, vier von zehn sehen die Beratung als optionale ärztliche Aufgabe, und nur jeder zehnte Umfrageteilnehmende gibt an, dass die Beratung nicht von Ärzten durchgeführt werden sollte. „Dieser Befund macht zwar die Heterogenität unter den Befragten deutlich, zeigt aber auch, dass – zumindest im Grundsatz – die Mehrheit unserer onkologisch tätigen Kolleginnen und Kollegen die Beratung als eine ärztliche Aufgabe begreift. Darüber hinaus zeigen uns die Zahlen, dass unsere Kolleginnen und Kollegen, die ihre Patientinnen und Patienten oftmals über viele Jahre behandeln und daher auch sehr gut kennen, sie auch in existenziellen Lebensphasen begleiten und nicht allein lassen möchten“, so Prof. Dr. Eva Winkler, Vorsitzende des DGHO-Arbeitskreises Medizin und Ethik, Oberärztin und Leiterin der Sektion ‚Translationale Medizinethik‘ am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) an der Universitätsklinik Heidelberg. Dass für den Fall einer rechtlichen Regelung der ärztlich assistierten Selbsttötung auch Vorgaben zur Qualitätssicherung implementiert werden sollten, befürwortet mit sieben von zehn Umfrageteilnehmenden eine deutliche Mehrheit. „Auch für die konkreten Maßnahmen zur Qualitätssicherung sehen wir Zustimmungen“, so Winkler weiter. Sechs von zehn der befragten onkologisch tätigen Ärzt*innen geben ‚Meldepflicht der Beratung‘, Meldepflicht der Rezeptausgabe‘ und ‚Begleitforschung‘ als qualitätssichernde Maßnahme an, bei dem Punkt ‚Ärztliche Fortbildungen‘ sind die Zustimmungswerte sogar noch etwas höher.
„Mit Blick auf die Interpretation der Ergebnisse sehen wir, dass seitens unserer Kolleginnen und Kollegen der Wunsch nach einem Regelungsbedarf besteht, in dessen Rahmen Ärztinnen und Ärzte sowohl offen als auch differenziert und bedacht mit den von Patientinnen und Patienten vergleichsweise häufig vorgebrachten Sterbewünschen umgehen können“, so Prof. Dr. Maike de Wit, Mitglied im Vorstand der DGHO und Chefärztin der Klinik für Innere Medizin – Hämatologie, Onkologie und Palliativmedizin am Vivantes Klinikum Neukölln. „Gleichzeitig muss zum Schutz der Patientinnen und Patienten gewährleistet sein, dass Freiverantwortlichkeit, Information, insbesondere über palliativmedizinische Maßnahmen sowie Ernst- und Dauerhaftigkeit eines Anliegens bezüglich der assistierten Selbsttötung geprüft werden können.“
Schildmann erläutert in diesem Zusammenhang: „Die Umfrageteilnehmenden unterscheiden zwischen persönlichen moralischen Bewertungen und angemessenen Regelungen. Pauschale Verbote werden den schwierigen individuellen Entscheidungssituationen nicht gerecht, wir benötigen differenzierte und tragfähige Regelungen. Die Umfrageergebnisse bieten hierfür Ansatzpunkte.“
Trümper ergänzt: „Die Betreuung von Menschen am Lebensende ist eine besondere Herausforderung für Arztinnen und Ärzte. Dabei bleibt die Anfrage nach einer ärztlich assistierten Selbsttötung immer eine Ausnahmesituation. Für diese existenziellen Situationen braucht es für Betroffene sowie für Ärztinnen und Ärzte Ermessensspielraum. Wir schlagen die Förderung untergesetzlicher Lösungen zur Sicherung der ärztlichen Zuwendung für diese Patientinnen und Patienten ohne Strafandrohungen bei gleichzeitiger Gewährleistung von Sorgfalt und Versorgungsqualität vor.“
Quelle: Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie
29.04.2021