Präzisionsmedizin
Hype oder Heilsbringer?
Hinter dem Begriff Präzisionsmedizin verbirgt sich nicht nur ein veränderter Ansatz zur Behandlung einer Krankheit. Viel mehr noch geht es um Prävention. „Präzisionsmedizin ist konsequentes Weiterdenken der individualisierten Medizin“, resümiert Uta Knöchel, CIO am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein.
Report: Cornelia Wels-Maug
Präzisionsmedizin wird bisher insbesondere auf dem Gebiet der Onkologie eingesetzt. Standardisiert erhalten alle Patienten, die unter der gleichen Krankheit leiden, das gleiche Medikament. Wohl wissend, dass diese Einheitlichkeit nicht bei allen anschlägt und zu unerwünschten Nebenwirkungen führen kann. Denn trotz gleicher Diagnose reagieren Patienten oft sehr unterschiedlich auf identische Therapieansätze. Laut Philipp U. Heitz, emeritierter Professor für Pathologie, Universität Zürich, gibt es eine hohe Rate des Nichtansprechens von Patienten auf Medikamente. Bei Antidepressiva liegt diese bei 38 Prozent, bei Krebs sogar bei 75 Prozent. Dies ist auf die individuelle Metabolisierung von Wirkstoffen und die zumeist nicht gleichen Ansatzpunkte für Arzneimittelsubstanzen zurückzuführen.
Neuer Ansatz für Mediziner und Pharma
„Ist die Arzneimitteltherapie präziser auf Patientinnen und Patienten abgestimmt, bedeutet das nicht nur eine Steigerung der Versorgungsqualität. Gleichzeitig werden Therapien wirtschaftlicher durch abgestimmte Dosierung und dadurch reduzierte Wechselwirkungen wirtschaftlicher“, erläutert Julia Stingl, Vizepräsidentin des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Dies ist nicht trivial, denn Schätzungen zufolge gehen fünf bis zehn Prozent aller Krankenhauseinweisungen auf unerwünschte Arzneimittelwirkungen zurück.
Der Schlüssel für eine gezieltere Behandlung liegt in der Berücksichtigung der individuellen Genetik eines Patienten, dessen Lebensgewohnheiten sowie der Umweltfaktoren, denen ein Individuum ausgesetzt ist. Insbesondere die finanzielle Machbarkeit der Sequenzierung eines Genoms sowie die breitere Verfügbarkeit von Versorgungs- und Umweltdaten in elektronischer Form haben der Präzisionsmedizin Vorschub geleistet. Mithilfe von genetischen oder biochemischen Messgrößen, den Biomarkern, will man auf das jeweilige Krankheitsbild abgestimmte Therapien anbieten beziehungsweise Krankheitsrisiken frühzeitig identifizieren, so dass durch präventive Maßnahmen die Erkrankung verhindert, hinauszögert oder in ihrer Schwere abgemildert werden kann. Dabei beinhaltet der Begriff Präzisionsmedizin konkrete Anwendungen am Patienten, Forschungsvorhaben sowie die Hoffnung, basierend auf diagnostischen Tests, die für den Einzelnen am besten geeignete Medikation zu ermitteln.
Präzisionsmedizin im Einsatz
Auch in Deutschland arbeitet man mit diesem Ansatz. Das Projekt „Genexpressionstestung beim Mammakarzinom" des Universitätsklinikums Heidelberg ist nur ein Beispiel. Hier wird mittels einer kürzlich erworbenen Genexpressionsplattform eine individuelle Therapie an die spezifische Erkrankung angepasst. Dabei dienen die molekularen Eigenschaften der Tumorzellen als zentrale Entscheidungshilfen, da sie der Indikator dafür sind, wie sich eine Brustkrebserkrankung entwickeln wird und ob eine Chemotherapie für die Erkrankte erfolgversprechend ist oder nicht.
Ziel ist es, die Patientinnen bestimmen zu können, die von einer Chemotherapie nicht profitieren würden. So werden nicht nur Kosten gespart, sondern vor allem auch die meist massiven Nebenwirkungen vermieden. „Wir brauchen Präzisionsdiagnostik für eine individuelle Therapie", erläutert Peter Sinn, Sektionsleiter Gynäkologische Pathologie, Pathologisches Institut, Universitätsklinikum Heidelberg, da herkömmliche diagnostische Verfahren, wie Mammografie, Ultraschall, MRT oder Biopsien für diese Bestimmung nicht immer hinreichend sind.
Die Dringlichkeit des Themas ist auch bei den gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) angekommen. Im Rahmen des Innovationsfonds, der ja die qualitative Weiterentwicklung der Regelversorgung der GKV voranbringen soll, wird auch ein Forschungsprojekt zur Präzisionsmedizin mit € 1,5 Mio. gefördert.
Gut ist nicht gut genug
Doch, auch wenn die Möglichkeit schon besteht, den Ursachen von Tumoren mittels Genetik auf die Spur zu kommen, sind nicht alle Mutationen, die Molekularbiologen und Genetiker bei Tumorerkrankungen finden, behandlungsrelevant: „Bei Melanomen gibt es rund 30.000 verschiedene Genveränderungen. Es wird in Zukunft eine Herausforderung sein, die den Krebs verursachenden Mutationen und die bloßen 'Trittbrettfahrer' zu identifizieren", gibt Boris C. Bastian, MD, PhD, Professor für Dermatologie und Pathologie, Universität von Kalifornien, zu bedenken.
25.04.2017