Eine Frau in blauer Klinikmontur bedient ein Beatmungsgerät auf der...

© Michael Bührke / pixelio.de

News • DRG-System

Wissenschaftler empfiehlt Abschaffung der Fallpauschalen

Die DRG-Fallpauschalen, über die seit gut 15 Jahren Behandlungen in deutschen Krankenhäusern abgerechnet werden, erzeugen Kostendruck ohne eine systematische Berücksichtigung von Qualität sowie intransparente, rational nicht begründete Umverteilungseffekte in und zwischen Kliniken. Dadurch hat das DRG-System sehr problematische Entwicklungen ausgelöst oder verstärkt. Dazu gehört die dramatische Unterbesetzung in der stationären Krankenpflege, wo mindestens 100.000 Vollzeitstellen fehlen und negative Konsequenzen für Patientinnen und Patienten dokumentiert sind.

Außerdem hat das Fallpauschalen-System eine Privatisierungswelle angeschoben, durch die es erstmals in der Bundesrepublik weniger Allgemeinkrankenhäuser in öffentlicher Trägerschaft gibt als Kliniken, die zu privaten, gewinnorientierten Konzernen gehören. Dieser Trend könnte sich wieder verschärfen, wenn Einnahmeausfälle durch die Corona-Pandemie nicht ausreichend ausgeglichen werden und Kommunen gleichzeitig aufgrund von Steuerausfällen nicht in der Lage sind, daraus entstehende Verluste ihrer Kliniken auszugleichen. Zu diesen Ergebnissen kommt eine neue, von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie des Gesundheitssystemforschers Prof. Dr. Michael Simon.* Angesichts der negativen Erfahrungen empfiehlt der Wissenschaftler, die Fallpauschalen abzuschaffen. Ersetzen sollte sie ein Vergütungssystem, das von einer qualitätsorientierten staatlichen Krankenhausplanung ausgeht und die wirtschaftliche Sicherung aller Krankenhäuser gewährleistet, die auf dieser Basis als bedarfsgerecht eingestuft werden. Dazu seien in letzter Zeit durch die Ausgliederung der Pflegebudgets aus dem DRG-System erste Schritte gemacht worden, die nun fortgeführt werden sollten, analysiert der Experte von der Hochschule Hannover.  

Über das DRG-Fallpauschalen-System werden Behandlungen in deutschen Allgemeinkrankenhäusern abgerechnet. Nach Simons Analyse macht es gegenwärtig 70 bis 90 Prozent der Klinikbudgets aus. Vereinfacht gesagt, werden alle Erkrankungen sowie Untersuchungen und Therapien, die Kliniken durchführen, einer Fallpauschale zugeordnet, aus der sich die Vergütung ergibt. Die Höhe der Pauschalen wird jährlich neu kalkuliert auf Basis der durchschnittlichen Behandlungskosten, die in 250 bis 300 Kliniken erhoben werden. In Kombination mit Mengenkontingenten für verschiedene Leistungen, etwa Operationen, deckelt das System die Gesamtausgaben für stationäre Krankenhausleistungen in Deutschland. Aktuell umfasst der DRG-Katalog rund 1300 Fallpauschalen.
Was auf den ersten Blick wie ein recht differenziertes Verfahren wirken mag, entpuppt sich nach Analyse des Experten jedoch als grobes, oft intransparentes Raster, das auf unterschiedlichen Ebenen hoch problematische Wirkungen erzeugt. Das beginne bei der Definition der Fallgruppen. Simon kritisiert das System als „in hohem Maße medizinisch inhomogen. Es fasst Patienten mit teilweise sehr unterschiedlichen Diagnosen und Behandlungsarten zu gleichen Fallgruppen zusammen.“ So entstünden „Kostenunterschiede, die es für Krankenhäuser lukrativ machen, selektiv nur wenig kostenaufwändige Patientengruppen zu behandeln und die anderen entweder abzuweisen oder an andere Krankenhäuser weiterzuleiten.“    

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"Strukturelle Veränderungen sind notwendig"

Die Deutsche Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN) begrüßt in ihrer aktuellen Stellungnahme die kritische Diskussion um eine Neuordnung der Deutschen Krankenhauslandschaft, die durch die aktuelle Bertelsmann-Studie ausgelöst wurde. Nach Ansicht der Fachgesellschaft ist es auch aufgrund des Personalmangels dringend notwendig, insbesondere in Ballungsräumen…

Diese Verzerrung werde verschärft dadurch, dass die Stichprobe der Kliniken, deren Daten in die Kalkulation der Fallpauschalen einfließen, nicht repräsentativ für die Gesamtheit der deutschen Krankenhäuser ist. Auch dadurch erscheine die jährliche Neufestsetzung der Pauschalen aus Sicht vieler Krankenhäuser als „eine Art Glücksspiel“.
Noch gravierender: Bei der Kalkulation der Pauschalen wird den erhobenen durchschnittlichen Kosten nicht systematisch die dabei erreichte Behandlungsqualität gegenübergestellt, betont Simon. Beispielsweise flössen keinerlei Daten zur „Strukturqualität“ in den Krankenhäusern ein, also etwa der Personalausstattung auf den Stationen. So sei im DRG-System auch nach 15 Jahren „vollkommen unbekannt, welche Qualität hinter den ermittelten Durchschnittskosten steht.“ Folge: Im Bemühen, den Durchschnitt nicht zu überschreiten oder gar zu unterbieten, sparten Krankenhaus-Manager beim größten Posten in ihrer Kalkulation: bei der Belegschaft. So „bestraft das DRG-Fallpauschalensystem eine überdurchschnittlich gute Personalbesetzung mit Verlusten und belohnt Unterbesetzung mit Gewinnen.“
Durch den hohen Druck von außen hätten viele Klinikleitungen in den vergangenen Jahrzehnten höchst problematische Entscheidungen getroffen, die der Wissenschaftler detailliert nachzeichnet: Zwar wurde der ärztliche Dienst in den vergangenen Jahrzehnten deutlich aufgestockt, von 2002 bis 2017 um 46.000 Vollzeitstellen. Das sei auch im Interesse der Patientinnen und Patienten gewesen, weil Personalmangel, zahlreiche unbezahlte Überstunden und viele Bereitschaftsdienste zuvor die Arbeit am Krankenhaus für Ärztinnen und Ärzte zunehmend unattraktiv gemacht hätten, betont Simon. Im durch die Fallpauschalen finanziell gedeckelten System mussten die zusätzlichen Ausgaben aber an anderer Stelle eingespart werden. Das geschah etwa beim technischen und Servicepersonal der Krankenhäuser, das über Ausgliederungen in Tochterfirmen mit oftmals deutlich schlechterer Bezahlung wechseln musste.

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Noch drastischer waren die Auswirkungen im Pflegedienst: Allein zwischen 2002 und 2006, also rund um die Einführung der Fallpauschalen, fielen an deutschen Akutkrankenhäusern 33.000 Vollzeitstellen in der Pflege weg, ein personeller Aderlass, der längst nicht wieder wettgemacht wurde. Da die Personalausstattung auch zuvor unzureichend war und Patientenzahlen und -alter schon durch den demografischen Wandel weiter gestiegen sind, geht Simon davon aus, dass in deutschen Allgemeinkrankenhäusern aktuell gut 100.000 Vollzeitstellen für Pflegerinnen und Pfleger fehlen. Würde man die Personalbesetzung im Pflegedienst deutscher Krankenhäuser auf das Niveau anheben, das die Schweiz oder  Dänemark pro 1000 Einwohner schon haben, müssten sogar zwischen 160.000 und 260.000 Vollzeitkräfte zusätzlich eingestellt werden.
„Angesichts dieser erheblichen Unterbesetzung im Pflegedienst deutscher Krankenhäuser muss davon ausgegangen werden, dass dies Auswirkungen auf die Qualität der Patientenversorgung hat“, schreibt der Forscher. Zahlreiche qualitative Untersuchungen und journalistische Beiträge zum Pflegenotstand beschrieben das Problem realistisch, auch wenn es überraschenderweise bislang keine großangelegten bundesweiten Untersuchungen dazu gebe. Im Ausland sei die Forschung weiter, betont Simon. Und der „weit überwiegende Teil dieser Studien kam zu dem Ergebnis, dass es einen signifikanten Zusammenhang zwischen der Anzahl und Qualifikation des Pflegepersonals und einem Großteil von Komplikationen gibt. Unterbesetzung erhöht das Risiko schwerer und lebensbedrohlicher Komplikationen bis hin zum Versterben.“
Zwischenfazit des Forschers: Angesichts der Probleme könne „für das DRG-System in keiner Weise der Anspruch erhoben werden, es sei ein vernünftig konstruiertes Vergütungssystem, das in der Lage ist, eine bedarfsgerechte Krankenhausversorgung sicherzustellen.“ Eine gewisse Wirkung habe es lediglich bei der Deckelung der Ausgaben für Krankenhausbehandlungen. Allerdings seien die Kosten für die stationäre Gesundheitsversorgung in Deutschland vor Einführung der Fallpauschalen auch nicht schneller gestiegen als danach, betont Simon. Seit Anfang der 1990er Jahre bewegten sie sich auf einem konstanten Niveau von 2,6 bis 2,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Ein Anstieg auf 2,9 Prozent im Jahr 2009 erklärt sich damit, dass im Jahr der Finanz- und Wirtschaftskrise die Wirtschaftsleistung einbrach.
Auf die im internationalen Vergleich hohe Krankenhausdichte, die wirtschaftsliberale Gesundheitsökonomen bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie kritisierten, hat sich das DRG-System nach Simons Analyse kaum ausgewirkt. Zwar sank in den vergangenen Jahren die Zahl der eigenständigen Krankenhäuser. Doch meist schlossen Kliniken nicht, sondern sie fusionierten. Daher wurden nur relativ wenige Krankenhausbetten abgebaut. Dazu trug auch bei, dass private Konzerne vor und während der DRG-Einführung etliche zuvor kommunale Krankenhäuser übernahmen:  Zwischen 2000 und 2010 wuchs die Zahl der privaten Allgemeinkliniken um rund 30 Prozent von etwa 440 auf 575. Seit 2009 übersteigt sie die Zahl der öffentlich getragenen Häuser. Die Privatisierungswelle dürfte den Druck bei der Krankenhausfinanzierung noch erhöht haben, schätzt Simon. Schließlich müssten Kliniken in privater Trägerschaft ja Gewinne abwerfen.  

Kritik wächst

Der Forscher konstatiert eine wachsende Unzufriedenheit mit dem System der Fallpauschalen, gerade auch in der Politik: „In den letzten Monaten ist die Kritik am DRG-System stärker geworden, und erstmals seit Einführung wird auch von Politikern der Regierungskoalition und einigen Landesregierungen eine grundlegende Reform gefordert“, schreibt Simon. Der Gesundheitsexperte plädiert für eine grundlegende Rückkehr zum „Selbstkostendeckungsprinzip“, das bis Anfang der 1990er Jahre galt. Es  beruhte darauf, dass Kliniken, die im öffentlichen Krankenhausplan als notwendig anerkannt waren, im Rahmen von Wirtschaftlichkeits-Vorgaben das nötige Geld bekamen, um ihren Betrieb sicherzustellen. Simon empfiehlt zudem, bei der Krankenhausplanung die Orientierung an Qualitätskriterien zu stärken.
Dass das System der Fallpauschalen gescheitert sei, zeigt sich nach Analyse des Forschers auch daran, dass die seit diesem Jahr geltenden neuen Pflegebudgets für Kliniken, mit denen der eklatante Personalmangel gemildert werden soll, auf den tatsächlichen Selbstkosten für Pflegepersonal beruhen und nicht mehr auf dem DRG-System. „Das kann als Beleg dafür gewertet werden, dass die Sicherstellung einer bedarfsgerechten Krankenhausversorgung ohne das Selbstkostendeckungsprinzip nicht dauerhaft erreichbar und zu gewährleisten ist“, so Simon. Nach diesem sinnvollen ersten Schritt solle die Gesundheitspolitik jetzt konsequent umsteuern und das DRG-System vollständig abschaffen.

Quelle: Hans-Böckler-Stiftung

13.11.2020

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