Im Metaverse können digitale Klinikumgebungen gestaltet werden. Viele der Beschränkungen, die es in der realen Welt gibt, können in den virtuellen Krankenhäusern umgangen werden.

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Artikel • Interaktive VR-Welten im Gesundheitswesen

Bringt das Metaverse Mehrwert für die Medizin? Ja, aber…

Beim Begriff Metaverse denken viele zunächst an VR-Brillen und den Facebook-Mutterkonzern – aber kann das digitale Paralleluniversum auch echte Vorteile für die Medizin bringen? Dr. Anke Diehl hat sich intensiv mit der Technik befasst und erkennt erhebliches Potenzial für das Gesundheitswesen. Interessierte sollten jedoch einen gewissen Pioniergeist mitbringen, gibt die Expertin für digitale Transformation der Universitätsmedizin Essen zu bedenken.

Artikel: Wolfgang Behrends

Auf dem Medica Health IT Forum sehen die Besucher plötzlich für einen Moment doppelt: Dr. Anke Diehl steht vor ihnen auf der Rednerbühne – und zugleich im virtuellen Operationssaal auf dem Bildschirm dahinter. Die Expertin manövriert ihr digitales Alter Ego – ihren Avatar – durch die 3D-Umgebung, betätigt Geräte, liest Werte ab, kommuniziert mit anderen Personen im OP. 

Die Interaktivität ist eines der Hauptmerkmale des Metaverse: Anders als in herkömmlichen VR-Umgebungen sollen Benutzer sich untereinander austauschen, den computergenerierten Raum für gemeinsame Aktivitäten nutzen. Es ist kein Zufall, dass Meta, die Firma hinter Facebook, WhatsApp und Instagram, zum prominentesten Motor der Technologie geworden ist. Soziale Interaktion ist fest in der DNA des Metaverse verwoben, manche sehen die Technik sogar als logische Erweiterung sozialer Medien.

Gemeinsame Sache im Avatar-Krankenhaus

portrait of anke diehl
Dr. Anke Diehl

Foto: O. Hartmann

Aber funktioniert das virtuelle Miteinander auch im medizinischen Kontext? Dieser Frage gehen Diehl und ihr Team an der Universitätsmedizin Essen aktuell nach. „Wir haben ein Avatar-Krankenhaus eingerichtet – zum Teil mit digitalen Nachbildungen realer Klinikräume, zum Teil aber auch mit fiktiven Orten, die es so nur im Metaverse gibt, und in denen man beispielsweise 3D-Projektionen darstellen kann“, berichtet die Expertin. „Viele Anwendungsbereiche wurden anfangs durch die Covid-19-Pandemie inspiriert; wir waren etwa auf der Suche nach neuen Formaten, um uns mit Kollegen zu treffen und auszutauschen.“ Dafür wurden die Mitarbeiter zunächst ‚avatarisiert‘, also mit speziellen 360°-Kameras abfotografiert und als virtuelle 3D-Abbilder erschaffen, die sich frei in den digitalen Räumen bewegen können. „Bei einem Vortrag steuere ich meinen Avatar mit der Tastatur auf die virtuelle Bühne, und wenn ich mich umdrehe, dann sitzen mir gegenüber die Kollegen auf den Stühlen. Dieses räumliche Erleben ist ein wesentlicher Bestandteil der Technik.“ 

Der Zugang erfolgt in den meisten Fällen über einen PC mit Maus und Tastatur. „Viele denken beim Metaverse an VR-Brillen, aber das wäre in diesem Rahmen zu kostspielig und ist eigentlich auch gar nicht nötig“, erklärt Diehl. Das Gefühl der Immersion, also des ‚Vor-Ort-Seins‘ im virtuellen Raum, entsteht stattdessen über kleine Animationen der Avatare. „Wenn ein Nutzer beispielsweise redet, dann bewegen sich die Lippen und die Figur gestikuliert entsprechend.“ Von dieser zusätzlichen Interaktivität könnte auch das klassische Arzt-Patienten-Gespräch profitieren.

Mehrwert für Studenten und kleine Patienten

Das klinische Test-Metaverse ist jedoch mehr als nur eine dreidimensionale Telefonkonferenz, betont die Expertin: „Einen großen Mehrwert sehen wir etwa in der medizinischen Ausbildung. Dabei kann der Ausbilder beispielsweise in einen Patienten-Avatar schlüpfen und mit dem Schüler ein virtuelles Anamnesegespräch führen. Dank der Technik vergessen die Schüler schnell, dass ihnen eigentlich der Ausbilder gegenübersitzt, und die Situation verliert den Prüfungscharakter, der manchen Schülern durchaus Angst macht.“ 

Im Rahmen einer KI-Biennale in Essen konnten auch Besucher Erfahrungen mit dem medizinischen Metaverse sammeln. In Pilotprojekten kristallisiert sich zudem heraus, dass die virtuelle Umgebung insbesondere pädiatrischen Patienten helfen kann – etwa, um Ängste vor der unbekannten Klinikumgebung und ihren Instrumenten abzubauen. So erhalten Kinder beispielsweise vor einer MRT-Untersuchung über eine VR-App Unterstützung von den ‚Pingunauten‘, virtuellen Figuren, die die kleinen Patienten auf die lauten Maschinengeräusche vorbereiten und sie ermutigen.

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News • VR-App für Kinder

Wenn der Pinguin die Angst vor dem MRT nimmt

„Du hörst die Geräusche, aber sie machen dir gar nichts aus“: Im Rollenspiel bereitet der „Pingunauten Trainer“ seit 2019 Kinder auf die Untersuchung im Magnetresonanztomographen (MRT) vor. Entwickelt wurde die App unter der Leitung der Universitätsmedizin Duisburg-Essen (UDE) und des Uniklinikums Essen. Für viele Smartphones ist sie bereits kostenlos herunterzuladen.

In der Studienphase befindet sich derzeit ein weiteres VR-Spiel für Kinder, die eine Chemotherapie erhalten. Dabei werden sowohl das Kind als auch die Eltern in eine virtuelle Unterwasserwelt versetzt. „Im Spiel trägt das Kind einen Taucheranzug und kann zum Beispiel gemeinsam mit seinen Eltern die Fische steuern“, erklärt Diehl. „An einem bestimmten Punkt gibt der Arzt ein Zeichen und dann wird beispielsweise Desinfektionsmittel aufgesprüht. Im Spiel bekommt aber der Taucheranzug ein Leck und es strömt Wasser ein – so erschreckt sich das Kind nicht über die plötzliche Kälte.“ Dieser ‚Gamification‘-Ansatz ist für die Expertin eine der großen Stärken der Technik, was auch die vielversprechenden Zwischenergebnisse der Studie belegen.

Ärzte im Metaverse? Nur, wenn der Nutzen da ist

Zwar richten sich viele Metaverse-Anwendungen an ein jüngeres Zielpublikum, das mit digitalen Inhalten aufgewachsen ist. Eine Generationenfrage sei der Umgang mit der Technik jedoch nicht, betont die Expertin: „Ich glaube, es geht vor allem darum, offen für Neues zu sein, da gibt es keine Altersgrenze. Ein entscheidendes Kriterium für viele Ärzte ist, ob die Technologie funktioniert und einen medizinischen Nutzen hat. Wenn das der Fall ist, werden sie es auch übernehmen.“ 

Es ist noch ein weiter Weg, um die IT-Infrastruktur und den rechtlichen Rahmen entsprechend aufzubauen

Anke Diehl

Gerade die Lust am Ausprobieren sei von Vorteil, denn in vielerlei Hinsicht stecke das Metaverse noch in den Kinderschuhen, so Diehl: „Wir probieren aktuell vieles aus, und dabei gibt es einige Ansätze, die gut funktionieren und andere, für die die Technik einfach noch nicht ausgereift ist.“ Eine Limitation sei etwa, dass Gesundheitsdaten wie EKG, Bildgebung oder klinische Werte nicht in Echtzeit auf die virtuellen Monitore übertragen werden können. Für die Ausbildung am virtuellen Patientenmodell wäre dies eine große Bereicherung, stellt jedoch hohe Anforderungen an Technik und den Datenschutz. „Hier ist es noch ein weiter Weg, um die IT-Infrastruktur und den rechtlichen Rahmen entsprechend aufzubauen“, gibt die Expertin zu bedenken.

Die Zukunft: Digitale Ergänzung bestehender Verfahren

„Das Metaverse ist sicherlich nicht die Zukunft des Gesundheitswesens“, zeigt sich Diehl überzeugt. „Für uns steht die Versorgung unserer Patienten an erster Stelle und dabei müssen wir alle mitnehmen. Wenn jemand also eine Behandlung nicht digital mitmachen kann, brauchen wir eine Alternative, die analog funktioniert. Denn es wird immer auch Patienten geben, die die technische Ausstattung nicht nutzen können oder wollen.“ 

Dennoch könne die Technik in Zeiten von Personalmangel erfolgreich eingesetzt werden, räumt die Expertin ein: „Es wird immer noch händeringend nach neuen Betreuungs- und Versorgungsformen gesucht, und hier hat das Metaverse das Potenzial, telemedizinische Anwendungen sinnvoll zu ergänzen.“ 


Profil:

Dr. Anke Diehl ist Chief Transformation Officer und Leiterin der Stabsstelle Digitale Transformation der Universitätsmedizin Essen und verantwortlich für die Umsetzung der Smart-Hospital-Strategie. Seit März 2021 ist sie zudem Konsortialführerin des Spitzenclusters KI in der Medizin "SmartHospital.NRW". Als Ärztin war sie in der Radiologie, Neurologie, Neuroradiologie und Psychiatrie tätig, bevor sie 2010 zum Land Nordrhein-Westfalen wechselte, wo sie bis 2018 die Abteilung für Versorgungsstrukturentwicklung leitete. Neben der digitalen Medizin beschäftigt sie sich aktuell mit Genderfragen in der KI und Digitalisierung und ist Preisträgerin des "Medical Woman of the Year"-Awards 2021. Im 7-köpfigen nationalen Expertengremium Interop Council vertritt sie die Gesundheits-IT-Anwender und sie ist Mitglied im Ausschuss Digitalisierung der Bundesärztekammer.

02.04.2024

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