Artikel • Neue EU-Verordnung

IVDR: Drohender Engpass bei Labor-Tests

Eine Reihe von Labor-Tests könnte ab Mai 2022 nicht mehr zur Verfügung stehen. Viele Hersteller haben Mühe, die Anforderungen der EU-Verordnung über In-vitro-Diagnostika (IVDR) zu erfüllen. Auch modifizierte sowie selbst entwickelte Tests werden für Laboratorien und Kliniken zum Problem, wie PD Dr. Thomas Streichert, Direktor des Instituts für Klinische Chemie der Uniklinik Köln, im Interview erläutert.

Interview: Daniela Zimmermann, Text: Michael Krassnitzer

HiE: In ungefähr einem halben Jahr wird die EU-Verordnung über In-vitro-Diagnostika (IVDR) gültig werden. Seitens der Laboratorien und der Labormedizin ist viel Kritik an dieser Verordnung laut geworden. Wo liegen die Probleme?

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PD Dr. Thomas Streichert

Streichert: Zugespitzt formuliert, könnten viele CE-markierte Tests, die in Laboren und Kliniken derzeit eingesetzt werden, im nächsten Jahr nicht mehr verfügbar sein. Wir stehen vor einer schwierigen Situation, die das Gesundheitswesen vor erhebliche Herausforderungen stellt. 

Welche sind die zentralen Inhalte der IVDR? 

Die IVDR bringt Vieles mit sich, das ich für wichtig und richtig halte: Erhöhung der Patientensicherheit, Einstufung der Produkte nach Risiken, Anpassung der Konformitätsbewertungsverfahren, Beaufsichtigung der sogenannten Benannten Stellen, eine Vereinheitlichung des Rechtsrahmens innerhalb Europas, Qualitätsstandards für Produkte, die nicht aus dem EU-Raum kommen. Und worüber ich mich besonders gefreut habe: Künftig sollen Tests hinsichtlich ihrer klinischen Leistungsfähigkeit überprüft werden. Wenn also ein neuer Test eingeführt wird, müssen Leistungsbewertungsstudien den klinischen Nutzen demonstrieren, zum Beispiel eine Verbesserung der Therapie. 

Und wo liegt nun der Haken?

Zunächst einmal ist der zeitliche Rahmen für die Umsetzung eher knapp. Die Verordnung ist 2017 in Kraft getreten und wird am 26. Mai 2022 gültig. Dieser Übergangszeitraum klingt lang; bedenkt man aber, was alles an Infrastruktur geschaffen werden musste, damit In-vitro-Diagnostika künftig genehmigt werden können, hat sich diese zeitliche Vorgabe doch als ziemlich sportlich erwiesen. Unter anderem ist eine Voraussetzung für die Verordnung, die zentrale Datenbank EUDAMED, noch nicht vollständig in Betrieb. 

Ein weiteres Problem stellen die Benannten Stellen („notified bodies“) dar, die bei der Konformitätsbewertung von kritischen Produkten beteiligt werden müssen. Nachdem Großbritannien die EU verlassen hat, gibt es in der EU statt 18 nur noch sechs Benannte Stellen. Damit ergibt sich ein relevanter „Flaschenhals“, der den Prozess zum Stocken bringt. 

Und das, obwohl eine Studie besagt, dass unter der IVDR bei knapp 78 Prozent der Prüfungen von In-vitro-Diagnostika eine Benannte Stelle involviert werden muss, während diese Quote bisher bei rund acht Prozent lag? 

Sie zitieren die Studie von MedTech Europe, die in vielerlei Hinsicht sehr erhellend ist: Sie zeigt, dass ein erhebliches Risiko besteht, dass viele Tests im nächsten Jahr nicht mehr verfügbar sein könnten. Gerade für seltene Erkrankungen gibt es Tests, die von kleinsten Herstellern, zum Teil Spin-off-Unternehmen von Universitäten, vertrieben werden. Diese Tests weiter anzubieten, ist aufgrund des enorm hohen Aufwandes wirtschaftlich schwierig. Wenn ein Anbieter seinen Test nicht mehr als CE-gekennzeichnetes Produkt anbieten kann, dann kann ich ihn zwar noch kaufen, muss den Test allerdings selbst validieren und als Laborleiter verantworten. Einen gekauften Test zu validieren ist praktisch nicht möglich. 

Schwierigkeiten kommen auch auf Tests zu, die von Laboren selbst entwickelt werden. Welche sind das?

Im Zweifelsfall könnten wir gezwungen sein, diesen für Patienten sinnvollen Test stillzulegen

Thomas Streichert

Ein durchschnittliches Universitätsklinikum hat 700 bis 800 Eigenentwicklungen („laboratory developed test“, LDT) im Einsatz. Künftig müssen all diese Inhouse-Tests jene Voraussetzungen erfüllen, die von der IVDR gefordert werden. Das belastet Kliniken und Labore mit erheblicher Arbeit. Die aus meiner Sicht problematischsten Assays sind die modifizierten Tests, also kommerzielle Assays, bei deren Anwendung wir vom Herstellerprotokoll abweichen; zum Beispiel, indem wir einen Test bei einer anderen Matrix anwenden. An der Uniklinik Köln messen wir einen bestimmten Tumormarker im Liquor und nicht im Serum oder im Plasma, wie es der Test eigentlich vorsieht. Streng genommen handelt es sich um eine signifikante Testmodifikaktion, so dass wir für dieses Medizinprodukt zum Hersteller werden. In anderen Worten, wir müssten diesen Test selbst neu validieren. Dazu müssten wir allerdings technische Details des Assays kennen, z.B. wo der entsprechende Antikörper bindet und wie die dazugehörigen Leistungsstudien aussehen – eine Sisyphus-Aufgabe, die auch die Offenlegung der Information durch den kommerziellen Anbieter erfordert. Im Zweifelsfall könnten wir gezwungen sein, diesen für Patienten sinnvollen Test stillzulegen.

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Besteht vielleicht die Möglichkeit, dass die Hersteller die Zweckbestimmung ihrer Tests anpassen?

Die Hersteller haben in diesem Punkt Zurückhaltung signalisiert. Sie sind derzeit damit ausgelastet, die bestehenden Tests rechtzeitig IVDR-konform zu machen. Eine Modifikation der Zweckbestimmung führt dazu, dass das Konformitätsbewertungsverfahren nochmal durchlaufen werden muss.

Es gibt auch Befürchtungen, dass Laboratorien künftig für Tests bezahlen müssen, die sie selbst entwickelt haben, die aber von einer Firma kommerziell angeboten werden. Was ist da dran?

An der Uniklinik Köln haben wir eine Reihe massenspektrometrischer Assays, mit denen wir Medikamentenkonzentrationen messen, selbst erstbeschrieben. Mittlerweile hat eine Firma einen dieser Tests in ihr Portfolio aufgenommen. Wenn wir den Vorgaben der IVDR hinsichtlich des sogenannten Industrieprivilegs folgen, dann muss ich den Assay, den ich selbst etabliert habe, klinisch und technisch mit dem kommerziell erhältlichen Test abgleichen. Wenn dieser gleich gut oder besser ist, muss ich den Test, den ich selbst entwickelt und erstbeschrieben habe, einstellen und den kommerziellen Assay nutzen. Als Labor fragt man sich: Warum soll ich den riesigen Aufwand für die Entwicklung eines Tests aufnehmen, wenn zwei Jahre später eine Firma diesen Analyten in ihr Portfolio aufnimmt und ich gezwungen bin, diesen Test dann zu kaufen?

Bildquelle: Shutterstock/angellodeco

Wie lässt sich dieses Problem lösen?

Indem man die Zweckbestimmung für seine Patientengruppe sehr eng fasst, dabei aber Besonderheiten wie z.B. die gute Funktion auch in anderen Probenmatrices wie Liquor-Proben zeigt. Selbst wenn wir mit einer geringeren Probenmenge arbeiten als das der Hersteller vorsieht, dann ist unser Test dennoch besser, weil schonender – blutsparender – für den Patienten. Das Industrieprivileg sehe ich daher mit einer gewissen Entspanntheit. Ich halte die Wahrscheinlichkeit für sehr gering, dass ein Hersteller auf sein Recht pocht, dass wir seinen Test verwenden und uns abmahnt. Dazu müsste er nämlich zeigen, dass sein Assay die Qualitätsvorgaben unseres Inhouse-Assays komplett erfüllt. Das heißt, er müsste seinen Entwicklungsprozess uns gegenüber offenlegen – was er wohl nicht so gerne tun wird. 

Der Druck entsteht nicht so sehr durch die Hersteller, sondern kann durch die Aufsichtsbehörden entstehen. Alles in allem wird es dazu kommen, dass eigenentwickelte Tests nur noch in deutlich geringerem Umfang eingesetzt werden können.

Wird das auch wirtschaftliche Konsequenzen haben?

Stellen Sie sich einmal vor, wir hätten im Zuge der Pandemie darauf warten müssen, bis ein kommerzieller Anbieter einen Covid-19-Test auf den Markt bringt.

Thomas Streichert

Mit Eigenentwicklungen fahren Labore wirtschaftlich oft deutlich günstiger. In der Kommentierung zur IDVR aber heißt es, dass die wirtschaftliche Beurteilung nicht der Grund für den Einsatz einer Inhouse-Entwicklung sein darf. Damit nimmt man den Kliniken den Anreiz, selbst Tests zu entwickeln. Damit aber geht langfristig die Fähigkeit von Kliniken oder Laboren verloren, auf akute Situationen zu reagieren. Stellen Sie sich einmal vor, wir hätten im Zuge der Pandemie darauf warten müssen, bis ein kommerzieller Anbieter einen Covid-19-Test auf den Markt bringt.

Welche Schwierigkeiten kommen im Zuge der IVDR noch auf Labore und Kliniken zu?

Der Begriff des In-vitro-Diagnostikums wurde um den Bereich der Software erweitert. Das ist nur eine Zeile in der Verordnung, hat aber enorme Auswirkungen. Denn damit werden an die Softwareherstellung die gleichen Anforderungen gestellt wie an die Herstellung von Nassprodukten. In den Bereichen Next Generation Sequencing, Humangenetik oder molekulare Tumordiagnostik verwenden Labore komplexe Softwarelösungen, die verschiedene Testergebnisse integrieren. All diese Softwarelösungen müssen dahingehend überprüft werden, ob es sich nicht um eine Eigenentwicklung im Sinne der IVDR handelt. Kaum jemand hat jemals eine Software validiert – geschweige denn so validiert, dass sie IVDR-konform ist.

Wie kann diese Klippe umschifft werden?

Ich bin Leiter einer Subgruppe bei der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), die sich ausschließlich mit Softwarefragen in Zusammenhang mit der IVDR befasst. In diesem Rahmen haben wir ein Dokument verfasst, das hilfreiche Hinweise für diejenigen enthält, die diese Softwarelösungen entwickeln. 

Immerhin ist die IVDR in Sachen Software nicht zu konkret geworden, so dass wir ein bisschen Gestaltungsspielraum haben. Aber die Anforderungen sind da und wir werden sie erfüllen müssen. Am Ende des Tages werden wir über diese Hürde springen müssen. 


Profil:

PD Dr. Thomas Streichert ist Direktor des Instituts für Klinische Chemie, ärztlicher Leiter des Zentrums für Labordiagnostik (Klinische Chemie, Mikrobiologie, Virologie, Pharmakologie, Endokrinologie) und kommissarischer Leiter des Instituts für Pharmakologie, Therapeutisches Drug Monitoring, der Uniklinik Köln. Der gebürtige Südafrikaner hat in Hamburg Medizin studiert sowie als Assistenz- und Oberarzt gearbeitet. 2013 wechselte der Facharzt für Laboratoriumsmedizin an die Uniklinik Köln. Er ist Vorsitzender des Beirats E-Learning der Uniklinik Köln und Mitglied der Deutschen Vereinten Gesellschaft für Klinische Chemie und Laboratoriumsmedizin e.V.

15.11.2021

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