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Artikel • Medtech-Branche fordert Überarbeitung der Richtlinien
MDR & IVDR: Update oder Systemabsturz?
Seit ihrer Einführung sorgen die EU-Verordnungen über Medizinprodukte (MDR) und In-vitro-Diagnostika (IVDR) in der Branche für lange Gesichter: Zu kompliziert, zu bürokratisch, eine Innovationsbremse sollen sie sein, so die Kritik der Medizintechnik-Verbände, die dadurch sogar Europa als Wirtschaftsstandort gefährdet sehen. Mit Blick auf die bevorstehende Europawahl im kommenden Jahr bringen sich die Branchenvertreter daher in Position, um den Regelwerken eine neue Richtung zu geben.
Bericht: Wolfgang Behrends
Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz schilderten Vertreter des Bundesverbands Medizintechnologie (BVMed) und des Verbands der Diagnostica-Industrie (VDGH), welche Probleme die MDR und die IVDR für die Industrie, aber auch für Patienten bringt. Dies seien zum Teil sogar Probleme mit Ansage, befand Dr. Meinrad Lugan: „Alle Benannten Stellen müssen neu notifiziert werden. Das ist ein sehr langwieriger Prozess und die Kapazitäten dafür reichen bis heute nicht aus“, erklärte der BVMed-Vorstandsvorsitzende. „Gleichzeitig sollen alle bewährten Bestandsprodukte von Grund auf neu geprüft werden – das konnte natürlich nicht gut gehen.“ Vor allem für die kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU), die nach Angaben des Verbands 95% der Branche ausmachten, sei dies eine unzumutbare Belastung.
Droht die Abwanderung der Innovatoren?
Bereits jetzt seien die ersten Auswirkungen der neuen Regularien zu spüren, betonte Lugan. „Bis zu einem Drittel der betroffenen Produkte wird vom Markt genommen werden müssen, viele sind bereits jetzt nicht mehr verfügbar.“ Betroffen seien insbesondere Nischenprodukte, deren aufwändige Neu-Zertifizierung für die Hersteller schlicht nicht rentabel sei. Als Beispiele nannte er Spezial-Katheter für die Pädiatrie sowie Implantate für die Re-Implantation.
Die überbordende Bürokratie mache sich nicht nur bei bestehenden Produkten bemerkbar, sondern drohe auch, künftiger Medizintechnik den Weg nach Europa zu versperren: Eine neue Studie habe gezeigt, dass 89% der Unternehmen mittlerweile dem US-Markt höhere Priorität bei der Zulassung ihrer Produkte einräumen1 – die regulatorischen Hürden für die FDA-Zertifizierung seien schlicht niedriger als bei der Europäischen CE-Kennzeichnung, erklärte Lugan. „So etwas hat es bisher nicht gegeben.“
Angriff auf das Fünf-Jahres-Monster
Die Erfahrung aus anderen Branchen habe gezeigt, dass innovationsstarke Unternehmen, die sich einmal zu einem neuen Markt umorientiert hätten, so schnell nicht nach Europa zurückkehrten, mahnte der Experte.
Um diesem Trend etwas entgegenzusetzen, haben BVMed und VDGH ein Whitepaper erstellt2, das Vorschläge zur Weiterentwicklung von MDR und IVDR enthält. Erklärtes Ziel ist die Abkehr von „Klein-Klein-Korrekturen“, stattdessen soll ein tragfähiges Konstrukt mit mehr Transparenz und Effizienz sowie besserer Verwaltungspraxis entstehen. Dazu zählt insbesondere die Anpassung der Vorgabe, Produkte alle fünf Jahre re-zertifizieren zu müssen – eine Regelung, die Lugan als „Papiermonster“ mit unüberschaubarem Mehraufwand bezeichnete.
Wir können nicht bis zur Evaluierung im Jahr 2027 warten. Wir müssen die notwendige Weiterentwicklung der MDR und IVDR jetzt gemeinsam diskutieren und zeitnah konsentieren
Meinrad Lugan
Um die bürokratische Last zu verringern, schlug Ulrich Schmid vor, Produkte mit niedriger Risikostufe (Klasse B) von diesem 5-Jahres-Zyklus auszunehmen, zugunsten einer Selbstzertifizierung der Hersteller. „Dabei handelt es sich beispielsweise um einfache Allergietests“, erklärte der VDGH-Vorstandsvorsitzende. „Die Frage muss lauten, wie wir den schnellen Zugang zu innovativen Produkten gewährleisten können, ohne die Sicherheit der Patienten zu gefährden.“
Zu den Vorschlägen zählen weiterhin die Ergänzung der EU-Regulierung um ein Fast-Track-Verfahren für Produkte mit dringendem Bedarf sowie Sonderregelungen für so genannte Orphan Devices und für die Diagnostik seltener Erkrankungen. „Diese Nischenprodukte sind für die Hersteller zwar unrentabel, aber für einzelne spezifische Patienten oft lebensrettend,“ gab Schmid zu bedenken. Das Whitepaper schlägt darüber hinaus die Einrichtung eines KMU-Büros für Medizinprodukte vor, das die Anliegen dieser Firmen gesondert vertritt. Lugan: „Wir können nicht bis zur Evaluierung im Jahr 2027 warten. Wir müssen die notwendige Weiterentwicklung der MDR und IVDR jetzt gemeinsam diskutieren und zeitnah konsentieren.“
„Alle Wege führen nach Brüssel“
Nach den ersten negativen Erfahrungen habe es auch seitens der Europäischen Kommission ein Einsehen gegeben, dass bei MDR und IVDR noch Verbesserungsbedarf bestehe, warf Dr. Marc-Pierre Möll ein. Das neue Whitepaper der beiden Medtech-Verbände sei daher zu einem günstigen Zeitpunkt fertig geworden, sagte der BVMed-Geschäftsführer. Die darin enthaltenen Vorschläge sollen nach der Europawahl im kommenden Jahr dazu dienen, im Dialog mit dem neuen Parlament ein Update der Regelwerke zu erarbeiten. „Es wird hier eine breite Diskussion geben müssen“, stellte Möll fest.
„Alle Wege führen nach Brüssel“, bekräftigte abschließend VDGH-Geschäftsführer Dr. Martin Walger. Allerdings gelte es, die aktuelle Problematik nicht als rein europäische Angelegenheit zu sehen: Der IVD-Markt in Deutschland sei mit 35% des EU-Marktes ein wichtiger Motor der Branche, rund zwei Drittel des Umsatzes in der Bundesrepublik gehe in den Export – noch. Mit dieser Vorreiterrolle einher gehe eine besondere Verantwortung, Deutschland als Innovations- und Wirtschaftsstandort attraktiv und wettbewerbsfähig zu halten.
Quellen:
30.08.2023