News • Männer, Frauen und das Coronavirus

Geschlecht und Gender in Covid-19-Studien zu wenig berücksichtigt

Obwohl sich das Coronavirus unterschiedlich auf Frauen und Männer auswirkt, stellt die große Mehrzahl der laufenden klinischen SARS-CoV-2- und Covid-19-Studien keinen Bezug zu Geschlecht und Gender her.

Bildquellen: Centers for Disease Control and Prevention (CDC)/Alissa Eckert, MS; Dan Higgins, MAM (Virus) / Unsplash/Federico Beccari (Hintergrund); Mashup: HiE/Behrends

Eine neue Metaanalyse von fast 4.500 klinischen Studien zeigt: Nur vier Prozent der ausgewerteten Studien sehen ausdrücklich vor, Geschlecht und Gender als Aspekte in ihre Analyse einzubeziehen. Für die Studie kooperierten Wissenschaftler der Universität Bielefeld, des Radboud University Medical Center (Niederlande) sowie der Universitäten Aarhus und Kopenhagen (beide Dänemark). Das internationale Forschungsteam hat seine Analyse in Nature Communications veröffentlicht. Die Fachzeitschrift Science greift die Studie in einem Artikel auf.

portrait of sabine oertelt-prigione
Studienautorin Prof Dr. Sabine Oertelt-Prigione

Foto: Universität Bielefeld

Während der Pandemie stellte sich heraus: Frauen und Männer sind von einer Corona-Erkrankung unterschiedlich betroffen. So sind Männer häufiger von schweren Krankheitsverläufen betroffen, müssen öfter im Krankenhaus behandelt werden und sterben schließlich im Zusammenhang mit dem Virus auch öfter. Woran das liegt, ist bisher nicht vollständig erforscht. Doch eine mögliche Konsequenz wäre, dass Frauen und Männer medizinisch unterschiedlich behandelt werden müssten. 

Ebenfalls besteht ein Zusammenhang zwischen Gender – also der sozialen Geschlechterrolle – und der Wahrscheinlichkeit, sich mit dem Virus anzustecken: Frauen sind häufiger als Männer als Pflegekräfte tätig und arbeiten häufiger in Berufen mit viel Kontakt zu Kunden und Auftraggebern. Dadurch steigt ihr Ansteckungsrisiko. „Das zeigt: Gender und Geschlecht müssen in klinischen Studien und in der Gesundheitspolitik berücksichtigt werden“, sagt Professorin Dr. Sabine Oertelt-Prigione. Sie ist Letztautorin der heute erschienenen Studie und forscht seit April 2021 an der Medizinischen Fakultät OWL an der Universität Bielefeld. Sie forscht außerdem am niederländischen Radboud University Medical Center. Oertelt-Prigione schätzt die fehlende Berücksichtigung von Geschlecht und Gender als bedenklich ein: „Von Anfang an konnten wir sehen, dass diese Krankheit bei Frauen und Männern unterschiedlich verläuft. Darauf weisen die Zahlen der Einweisungen ins Krankenhaus und der Todesfälle hin. Arzneimittel und nicht-pharmakologischen Maßnahmen könnten also eine unterschiedliche Auswirkung auf die Patient*innen haben – abhängig davon, ob sie weiblich oder männlich sind.“

Die Wissenschaftler analysierten 4.420 Covid-19-Studien, die bei ClinicalTrials.gov eingetragen sind. Die US-amerikanische Datenbank verzeichnet insgesamt mehr als 300.000 klinische Studien aus 200 Ländern. Die ausgewertete Stichprobe zu Covid-19 beinhaltet vor allem zwei Arten von Studien: 1.659 Beobachtungsstudien und 2.475 Interventionsstudien. In Interventionsstudien wird Patienten zum Beispiel ein neues Medikament verabreicht. In Beobachtungsstudien wird auf solch eine zusätzliche Behandlung verzichtet.

Von den 4.420 Studien haben 935 (21.2%) Geschlecht oder Gender als einzige Kategorie zur Auswahl der Probanden angegeben. Nur 178 Studien (4%) erwähnten Geschlecht oder Gender als geplante Variable in der Analyse. Weitere 237 Studien (5,4%) planten geschlechtsspezifische oder repräsentative Stichproben ein oder hoben die Bedeutung von Geschlecht oder Gender hervor. In 124 Studien (2,8%) waren die Probanden jeweils ausschließlich Frauen oder Männer. 100 dieser Studien untersuchten, wie sich das Virus oder eine bestimmte Behandlung auf Frauen auswirkt. Die weiteren 24 Studien befassten sich mit den Effekten auf Männer. Studien mit dem Fokus auf Frauen untersuchten meistens, wie Covid-19 den Ausgang von Schwangerschaften beeinflusst.

Wir sehen zunehmend, dass Frauen und Männer auf die Behandlung mit Medikamenten unterschiedlich reagieren. Wenn dieser Zusammenhang in Studien ignoriert wird, kann das langfristig zu ernsthaften, ungewollten Nebeneffekten führen

Sabine Oertelt-Prigione

Ein möglicher Grund für die Vernachlässigung von Daten zu Geschlecht und Gender ist der hohe Zeitdruck. Sabine Oertelt-Prigione: „Manche Forschenden befürchten, sie müssten mehr Proband*innen einbeziehen, wenn ihre Studie Geschlechtsunterschiede berücksichtigen soll. Diese Forschenden nehmen an, dass die Zusammenstellung der Untersuchungsgruppe dadurch länger dauert. Insbesondere in der frühen Phase der Pandemie haben sie unter hohem Zeitdruck gearbeitet.“

Dr. Emer Brady ist die Erstautorin der Studie und forscht an der Universität Aarhus (Dänemark). Sie ergänzt: „In Bezug auf den Zeitdruck haben wir gehofft, dass mit dem Fortschreiten der Pandemie auch das Bewusstsein wachsen würde, wie Geschlecht und Gender mit der Erkrankung zusammenhängen. Wir sind davon ausgegangen, dass im Verlauf der Pandemie zunehmend mehr Studienprotokolle mit dem Fokus Geschlecht und Gender auf ClinicalTrials.gov registriert werden. Leider war das nicht der Fall. Wir haben auch die publizierten Forschungsartikel zu klinischen Studien analysiert. Die Aufmerksamkeit für das Thema Geschlecht und Gender war hier stärker. Trotzdem wurde dieser Aspekt nur in einem Fünftel der publizierten Studien erfasst oder in der Analyse erwähnt.“

Sabine Oertelt-Prigione betont die grundsätzliche Bedeutung von Geschlecht und Gender in der klinischen Forschung: „Wir sehen zunehmend, dass Frauen und Männer auf die Behandlung mit Medikamenten unterschiedlich reagieren. Wenn dieser Zusammenhang in Studien ignoriert wird, kann das langfristig zu ernsthaften, ungewollten Nebeneffekten führen. Die Geschlechterunterschiede in den Blick nehmen, hat bei Covid vielfach dazu beigetragen, die Infektion besser zu verstehen. Es wird uns auch helfen, die medizinischen Behandlungen zu verbessern. Unterschiede in Bezug auf das Geschlecht zu berücksichtigen, ist ein unerlässlicher Schritt in Richtung einer personalisierten Medizin.“


Quelle: Universität Bielefeld

07.07.2021

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