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Artikel • Wissenslücken in der Gendermedizin
Covid-19 und Geschlecht: Männer sterben häufiger
Die Corona-Pandemie hat viele Auswirkungen auch auf die wissenschaftliche Forschung gehabt – unter anderem hat sie Wissenslücken im Bereich der Gendermedizin aufgezeigt. Immer wieder fielen in Studien als Zufallsbefunde Unterschiede in Morbidität und Mortalität zwischen Frauen und Männern auf. Systematisch untersucht wurden Ausmaß und Ursachen dieser Unterschiede jedoch wenig. Erste Erkenntnisse gibt es aber doch – und Bedarf an weiteren Studien.
Artikel: Dr. Christina Czeschik
Schon in den ersten untersuchten Kohorten von Covid-Erkrankten aus China war Anfang 2020 aufgefallen, dass Männer eine höhere Mortalität aufwiesen als Frauen. Dies bestätigte sich bald in Daten aus Italien, die zudem zeigten, dass Frauen sich im Vergleich zu Männern häufiger infizierten1. Letzteres konnte allerdings nicht durchgängig nachgewiesen werden – andere Studien berichteten gleiche Infektionsraten oder höhere Raten bei Männern2. Schnell wurde eine ursächliche Verbindung zu der bei Frauen und Männern jeweils unterschiedlichen Expression des Rezeptors ACE2 hergestellt3. Hierbei handelt es sich um ein Enzym, dessen membrangebundene Form dem SARS-CoV-2 als Eintrittspforte in die Zelle dient.
Die Expression von ACE2 ist in vielen Geweben des weiblichen Körpers höher als im männlichen. Dies liegt unter anderem daran, dass das ACE2-Gen auf dem X-Chromosom liegt. Das zweite X-Chromosom von Frauen unterliegt zwar weitgehend dem sogenannten „Silencing“ von Genen – sie werden also nicht, wie man annehmen könnte, doppelt so stark exprimiert, sondern eine der beiden Kopien wird sozusagen stillgelegt. Dieses Silencing ist aber nicht vollständig, so dass bei zwei vorhandenen X-Chromosomen die Expression von ACE2 110% der Expression bei nur einem X-Chromosom beträgt4.
Dies erklärt möglicherweise zum Teil die größere Erkrankungshäufigkeit von Frauen: Einige Autoren haben spekuliert, dass Frauen sozusagen mehr Eintrittspforten für SARS-CoV-2 auf ihren Zellmembranen haben1.
Aber was ist mit der niedrigeren Mortalität von Frauen? Diese bleibt auch dann in den wissenschaftlichen Daten noch bestehen, wenn man für andere Einflussfaktoren (Alter, Lebensstil, Vorerkrankungen, Zeitpunkt der Therapie etc.) korrigiert. Dasselbe gilt für die höhere Wahrscheinlichkeit von Männern für einen schweren Verlauf ihrer Covid-19. In Zahlen ausgedrückt: Eine Meta-Analyse von 90 Studien hat ergeben, dass Männer im Vergleich zu Frauen eine Odds‘ Ratio (OR) von 2.84 für einen Aufenthalt auf der Intensivstation wegen Covid-19 haben sowie eine OR von 1.39 für den Tod an Covid-19.
Ein Einflussfaktor ist vermutlich die Tatsache, dass auch Gene bestimmter im Immunsystem notwendiger Proteine auf dem X-Chromosom liegen und damit ebenfalls bei Frauen im Vergleich zu Männern leicht überexprimiert werden – beispielsweise TLR7, der eine wichtige Rolle in der Abwehr von Virusinfektionen spielt.
Das männliche Immunsystem und der Zytokinsturm
In einem so komplexen System wie der menschlichen Immunität wäre es aber irreführend, in einem bestimmten Zusammenhang nur von einer „stärkeren“ oder „schwächeren“ Abwehr gegen ein bestimmtes Virus zu sprechen und erstere als prognostisch günstig anzunehmen. Vielmehr können bestimmte Funktionseinschränkungen oder Organschäden auf die Aktivitäten der Immunabwehr und nicht direkt auf schädigende Funktion des Virus zurückgeführt werden. Männer neigen mit höherer Wahrscheinlichkeit im Rahmen einer Covid-19 (und auch bei anderen Infektionen) zu einem sogenannten Zytokinsturm, also einer überschießenden Entzündungsreaktion, die unter anderem durch das Zytokin IL-6 mitvermittelt wird – ein Protein, das Männer im Vergleich zu Frauen vermehrt exprimieren. Die schädigenden Wirkungen der Zytokinreaktion, die häufig mit zu dem namengebenden Bild des schweren akuten respiratorischen Syndroms (SARS) führen, erklären beispielsweise auch die Wirksamkeit der eigentlich immunsupprimierenden Glucocorticoide bei schwerem Covid-19. Entsprechend gibt es auch Hinweise darauf, dass eine Reduktion des Testosteron in männlichen Patienten zu einer günstigeren Prognose von Covid-19 führt5.
Die vorteilhafte Wirkung von Östrogen auf die Covid-19-Mortalität konnte auch in einer schwedischen Studie6 gezeigt werden, in der postmenopausale Frauen eingeschlossen waren. Patientinnen, die eine Östrogen-Substitution erhielten, zeigten eine geringere Mortalität an Covid-19 als Patientinnen ohne Substitution. Ob auch der umgekehrte Effekt existierte – dass Patientinnen mit Anti-Östrogen-Therapie nach einer Brustkrebs-Diagnose aufgrund des niedrigeren Östrogenspiegels eine höhere Covid-19-Mortalität hatten – konnte nicht sicher gezeigt werden.
Und auch hier sind die Wechselwirkungen komplex: es wurde vermutet, dass die leichteren Verläufe von Frauen unter anderem auch auf die niedrigere (und eben nicht höhere) Expression von ACE2 speziell im Lungengewebe bei Frauen zurückzuführen sind7.
Bildquelle: Mourosi et al., Infection, Genetics and Evolution 2022 (CC BY 4.0)
Gendermedizin: relevant für alle, unabhängig vom Geschlecht
Dieser kurze Einblick in die Forschung rund um Covid-19 und Geschlecht zeigt schon: Die Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen Geschlechtshormonen, Immunsystem und spezifischen Viren sind komplex. Sie besser zu verstehen könnte die Therapie der jeweiligen Erkrankung für beide Geschlechter verbessern, indem neue Ansätze entdeckt oder eine Wirksamkeit altbekannter Medikamente nachgewiesen werden.
Insgesamt wurde der Einfluss des Geschlechts aber in Studien während der Pandemie völlig unzureichend berücksichtigt, kritisieren Forscher8. In einem Review wurde festgestellt, dass nur knapp 18% der im ersten Pandemiejahr entstandenen klinischen Studien geschlechtsspezifische Subgruppen-Analysen enthielten. In einer kürzlich durchgeführten Umfrage9 unter Beteiligung des Instituts für Sozialmedizin der Charité und des Deutschen Ärztinnenbundes war nur neun von 16 befragten Virologen bekannt, dass es Geschlechtsunterschiede in der Epidemiologie von Covid-19 gibt, und nur drei der Befragten hielten die Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Unterschiede in ihrem Feld, der Virologie, für wichtig. Ein Umdenken wird notwendig sein, um auch im Gebiet der Infektiologie und Immunologie einen weiteren Schritt hin zu einer wirklich individualisierten Medizin zu machen.
Quellen:
- Gagliardi et al.: ACE2 expression and sex disparity in COVID-19; Cell Death Discovery 2020
- Peckham et al.: Male sex identified by global COVID-19 meta-analysis as a risk factor for death and ITU admission; Nature Communications 2020
- Ortolan et al.: Does gender influence clinical expression and disease outcomes in COVID-19? A systematic review and meta-analysis; International Journal of Infectious Diseases 2020
- Tukiainen et al.: Landscape of X chromosome inactivation across human tissues; Nature 2017
- Chislett et al.: 5-alpha reductase inhibitors use in prostatic disease and beyond; Translational Andrology and Urology 2023
- Sund et al.: Association between pharmaceutical modulation of oestrogen in postmenopausal women in Sweden and death due to COVID-19: a cohort study; BMJ Open 2022
- Mourosi et al.: The sex and gender dimensions of COVID-19: A narrative review of the potential underlying factors; Infection, Genetics and Evolution 2022
- Brady et al.: Lack of consideration of sex and gender in COVID-19 clinical studies; Nature Communications 2021
- Schluchter et al.: Virologists' Sex- and Gender-Based Medical Knowledge of COVID-19 Affects Quality of Students' Education; Women's Health Reports 2023
05.06.2023