Fachgesellschaften plädieren: lebenswichtige Therapieoption erhalten!

Infusionslösungen auf Basis von HAES (Hydroxyaethylstärke; auch HES) sind Blutvolumenersatzstoffe. Man setzt sie bei Patienten mit großem Blutverlust ein, um fehlendes Volumen zu ersetzen, den Blutkreislauf zu stabilisieren und die Versorgung der Organe mit Sauerstoff und Nährstoffen sicherzustellen.

Photo: Fachgesellschaften plädieren: lebenswichtige Therapieoption erhalten!
Photo: Fachgesellschaften plädieren: lebenswichtige Therapieoption erhalten!

Laut Zahlen des Gesundheitsinformationsdienstleisters IMS Health erhalten in Deutschland monatlich rund 150.000 Patienten ein bis zwei Infusionen. Ohne Einsatz von Blutvolumenersatzstoffen drohen ihnen Schockzustände und Kreislaufversagen. Seit mehr als über 40 Jahren finden HAES-Produkte in der klinischen Routine Verwendung.
Vor kurzem hat jedoch das „Pharmacovigilance Risk Assessment Commitee“ (PRAC) der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) die Empfehlung ausgesprochen, der bewährten Produktfamilie die Zulassung für die gesamte Klasse der Präparate und für alle Einsatzbereiche zu entziehen. Grundlage sind Ergebnisse von Studien, deren Ziel nicht auf eine Untersuchung der Produkte ausgerichtet waren und die einzelne Patientenrisikogruppen betreffen.

HAES ist pflanzlichen Ursprungs und wird u. a. aus Mais gewonnen. HAES-Produkte sind bereits seit Jahrzehnten weltweit im Einsatz; sie spielen eine wichtige Rolle im Klinikalltag, beispielsweise in der Intensiv- und in der Notfallmedizin und bei Operationen. Jüngst publizierte medizinische Studien kommen allerdings zu dem Ergebnis, HAES-Produkte hätten keine signifikanten Vorteile gegenüber anderen Blutvolumenersatzstoffen. So ergab die australische CHEST-Studie für Patienten mit Sepsis sogar ein erhöhtes Risiko für Nierenschäden, die in einer höheren Anzahl von Dialysebehandlungen und einer erhöhten Sterblichkeit bei der Gabe von HAES resultierten.

Mehrere Arzneimittelbehörden, darunter die europäische EMA, prüfen infolgedessen einen pauschalen Entzug der Zulassung für die gesamte Klasse der Präparate und für alle Einsatzbereiche. Eine zweite Expertengruppe im Auftrag des PRAC führt zwischen dem 7. und 9. Oktober eine Prüfung durch und wird dann eine finale Empfehlung an die EMA erteilen. – Der Hersteller Fresenius KABI hat vorsorglich alle Ärzte und Krankenhäuser, die HAES anwenden, darüber informiert, HAES aus Vorsichtsgründen nicht mehr bei Intensivpatienten, die an Sepsis erkrankt sind, einzusetzen.

Übereilte Entscheidung?
In der Fachwelt befürchtet man nun eine übereilte Reaktion der EMA und ein vorschnelles vollständiges Verbot von HAES-Produkten. Die jüngst veröffentlichten negativen Daten beziehen sich nämlich allein auf Sepsispatienten in intensivmedizinischer Behandlung. Im Notfall- oder im operativen Bereich gibt es dagegen keinerlei Anhaltspunkte gegen HAES – vielmehr belegen Studien ein günstiges Risiko-Nutzen-Profil von HAES.

Fachgesellschaften gegen pauschalen Entzug der Zulassung
Aus Sicht vieler würde ein pauschales Verbot von HAES eine lebenswichtige Therapieoption für diese Patientengruppen bedeuten. So fordert die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) den Erhalt der „Therapiefreiheit für nicht-septische Patienten“. Ähnliche Forderungen kommen von Fachgesellschaften in Österreich und Frankreich: HAES soll nicht grundsätzlich vom Markt genommen, sondern nur nicht mehr bei sepsiskranken Patienten in der Intensivmedizin eingesetzt werden.

Fragliche Verabreichungspraxis in Studien
Zweifel gibt es auch an der Qualität der Studien, die für die EMA-Entscheidung voraussichtlich maßgeblich sein werden. So wurde bei der dänischen 6S-Studie HAES in deutlich höheren Dosen verabreicht als in der Praxis üblich. Normalerweise wird HAES eingesetzt, um einen starken Blutverlust schnell auszugleichen und den Patienten zu stabilisieren; dann kommen Standardlösungen zum Einsatz. In der 6S-Studie wurde die Therapie jedoch mit HAES weitergeführt. In der CHEST-Studie wurden u. a. mehr Patienten aus der HAES-Gruppe mit Nierenersatztherapie behandelt, obwohl deren Nierenwerte sogar besser waren als in der Vergleichsgruppe. Die Studienautoren haben im Übrigen trotz mehrfacher Nachfrage die Rohdaten für die Analyse und Bewertung – um eine unabhängige Überprüfung zu ermöglichen – bis heute nicht offen gelegt.
HAES-Kritiker führen wiederum an, dass es für die Vorteile von HAES keine evidenzbasierten Nachweise gebe. Anders als heute waren jedoch bei der Zulassung von HAES vor über 40 Jahren entsprechende Studien weder nötig noch üblich. Demgegenüber verweisen zahlreiche Ärzte auf die jahrzehntelangen positiven Erfahrungen mit HAES in der klinischen Routine. Fresenius Kabi, ein führender Hersteller von HAES-Produkten, hat trotzdem bereits angekündigt, eine kontrollierte, randomisierte Studie zum Risiko-Nutzen-Profil von HAES durchführen zu lassen.

Ein Votum für Patienten
Viele Ärzte befürchten nun, dass die EMA eine pauschale Entscheidung zur Zukunft von HAES allein auf Basis einiger weniger – noch dazu umstrittener – Studien zu einem einzelnen Einsatzbereich von HAES trifft. Andere, widersprechende Studien sowie Studien und positive praktische Erfahrungen mit HAES in anderen Einsatzgebieten blieben unberücksichtigt … interpretierbar ist dies als voreiliger Eingriff in die Therapiefreiheit des behandelnden Arztes und als Risiko für Patienten, die auf die Vorteile von HAES insbesondere bei Notfällen oder Eingriffen angewiesen sind.

Auszug aus dem Schreiben des DGAI-Präsidenten Univ.-Prof. Dr. med. C. Werner an den BfArM-Vizepräsidenten Prof. Dr. Karl Broich vom 28. Juni 2013 in dieser Angelegenheit – siehe
http://www.dgai.de/aktuelles/BriefBfArM_HAES.pdf:
„Die Vertreter der DGAI sehen […] bei einigen von BfArM und EMA gewählten Experten und Verbänden die Grundsätze strikter Unvoreingenommenheit verletzt. Die Vertreter der DGAI weisen auf Fehler und Limitationen in sog. Schlüsselstudien zur Generalsuspendierung von HAES hin. Die Vertreter der DGAI regen eine Differentialbetrachtung von Substanzcharakteristika (Molekulargewicht, Kartoffel vs. Mais etc.), von Zeitpunkt der Gabe sowie des Behandlungsfeldes (Sepsis vs. perioperativ) an. Die DGAI bewertet aktuell gemeinsam mit allen relevanten medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften das Volumenmanagement im Rahmen eines AWMF-moderierten Leitlinienprozesses. Die Ergebnisse werden ab Herbst 2013 erwartet.“ Die Empfehlungen des DGAI-Präsidenten in diesem Schreiben lauten:
„Aufnahme von Repräsentanten der DGAI in das Expertengremium. Strikte Beibehaltung des Unvoreingenommenheitsgebotes. Suspendierung von HAES in Konstellationen der Sepsis oder des Capillary leak. Suspendierung von HAES 200.000. Therapiefreiheit für nicht-septische Patienten in perioperativen Situationen entsprechend der hierzu vorliegenden Studien mit positivem Ergebnis.“


 

 

11.10.2013

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