Experte analysiert die Rolle von Namensgebern neurologischer Erkrankungen in der Nazi-Zeit

Opfer, Täter, Mitläufer: Eine schwedische Studie, die auf der Jahrestagung der Europäischen Neurologengesellschaft in Mailand präsentiert wird, untersucht die Rolle, die prominente Neurologie-Forscher im „Dritten Reich” gespielt haben. Gemeinsam ist den Wissenschaftern, deren Biographie durchleuchtet wurde, dass nach ihnen neurologische Krankheiten benannt sind. Die neurologische Community sollte mit historisch besetzter Nomenklatur sensibel und bewusst umgehen, fordert der Autor der Studie.

„In der jüngeren Vergangenheit gibt es mehr Bewusstsein für die ethisch oft problematische Benennung von Erkrankungen nach Wissenschaftern mit einer fragwürdigen Rolle im so genannten Dritten Reich“, sagte Dr. Daniel Kondziella (Gothenburg, Schweden) heute bei der Jahrestagung der Europäischen Neurologengesellschaft in Mailand. Der deutsche Forscher, der in Schweden lebt und arbeitet, präsentiert auf dem Kongress Kollegen aus aller Welt die Ergebnisse seiner minutiösen Recherche über die Namensgeber von 30 neurologischen Erkrankungen und die Rolle, die diese Wissenschafter in der Nazi-Zeit gespielt haben.
Unter ihnen konnte Dr. Kondziella Täter, die aktiv an der Planung und Durchführung von NS-Euthanasieprogrammen beteiligt waren, ebenso identifizieren wie Profiteure, die über die Gehirne „euthanasierter“ Kinder publizierten. Die Studie beschreibt aber auch Opfer unter den Neurologen, die vertrieben oder in Konzentrationslagern ermordet wurden, sowie Wissenschafter, die durch ihre Proteste gegen das Regime ihre akademischen Karrieren oder ihr Leben aufs Spiel setzten.

Zahlreiche Top-Forscher ermordet oder vertrieben
„In den 1920er Jahren waren die Neurowissenschaften in Deutschland und Österreich weltweit führend“, sagt Dr. Kondziella. „Unter Hitler haben diese Länder viele ihrer hervorragendsten Wissenschaftler auf diesem Gebiet vertrieben oder ermordet.“ Unter ihnen Ludwig Pick (Nieman-Pick-Krankheit) und Arthur Simons (Baroquer-Simons-Syndrom), die in Konzentrationslagern ermordet wurden, oder Lucja Frey-Gottmann (Frey Syndrom), die im Lemberger Ghetto getötet wurde. Zahlreiche andere wurden vertrieben, so etwa Joseph Gerstmann (Gerstmann-Straussler-Scheinker Krankheit), Franz Kallmann (Kallmann Syndrom) und Max Bielschowsky (Jansky-Bielschowsky Krankheit).

Täter und Profiteure
„So genannte ‚arische‘ Mediziner konnten dann die frei gewordenen Positionen einnehmen, und zwischen vielen von ihnen und dem Nazi-Regime entwickelte sich eine symbiotische Beziehung“, so der Experte. In seiner Arbeit beschreibt er zum Beispiel die Aktivitäten der in Berlin und Gießen tätigen Neuropathologen Julius Hallervorden und Hugo Spatz (Hallervorden-Spatz-Krankheit) im Rahmen der NS-Euthanasieprogramme. „Sie sammelten die Gehirne von in diesen Programmen ermordeten Kindern und Erwachsenen und profitierten auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch wissenschaftlich von diesem Material“, sagt Dr. Kondziella.
Andere in der Studie beschriebene Wissenschafter wie der Wiener Neurologe Franz Seitelberger (Seitelberger Erkrankung) waren zwar selbst nicht Teil der Tötungsmaschinerie, haben aber im Rahmen des NS-Euthanasieprogramms gesammeltes Material für ihre Publikationen genutzt.

Wenig Widerstand
Nur wenige der Wissenschafter, nach denen neurologische Erkrankungen benannt sind, traten aktiv gegen das so genannte Dritte Reich auf, erklärt Dr. Kondziella. Zu den oppositionellen Neurologen gehörten Jules Tinel (Tinel Zeichen) und die in Berlin und Moskau tätigen Neurowissenschafter Oscar und Cécile Vogt (Vogt-Vogt Syndrom), die nicht nur offen das Regime kritisierten, sondern auch Verfolgten Unterschlupf boten.
Ambivalente Rollen
Zahlreiche andere Neurologen der 1930er und 40er Jahre spielten eine ambivalente Rolle, berichtet der Experte. Prominente Beispiele, die Dr. Kondziella in diesem Zusammenhang beschreibt, sind etwa Hans Gerhard Creutzfeld (Creutzfeld-Jacob-Erkrankung) und Andreas Rett (Rett Syndrom). Der Neurologe und Neuropathologe Creutzfeld galt einerseits als Nazi-Gegner, andererseits sei er bereits 1932 der SS als förderndes Mitglied beigetreten, berichtet Dr. Kondziella. Der Wiener Pädiater Andreas Rett galt aufgrund seines besonderen Engagements für geistig behinderte Kinder nach dem Zweiten Weltkrieg als Sozialreformer. Allerdings war er NSDAP-Mitglied, wie Dr. Kondziella aufzeigt, und publizierte gemeinsam mit dem Psychiater Heinrich Gross, der direkt an der Ermordung kognitiv beeinträchtigter Kinder am Wiener Speigelgrund beteiligt war.

Bewusster und sensibler Umgang mit der Nomenklatur
Auf das ethische Dilemma, dass neurologische Krankheiten auch nach Wissenschaftern mit fragwürdigen Rollen in der Nazi-Zeit benannt sind, gebe es keine einfachen Antworten, sagt Dr. Kondziella. Weder der völlige Verzicht auf solche Bezeichnungen noch die unreflektierte Weiterverwendung seien eine gute Lösung, ist der Forscher überzeugt. “Ich denke, wir sollten die Bezeichnungen durchaus verwenden, aber auf ihren historischen Hintergrund hinweisen, und dadurch auch Bewusstsein für den ethischen Kontext schaffen,“ schlägt Dr. Kondziella vor. „Bei Namensgebern, die aufgrund ihrer Rolle in der Nazi-Zeit zweifellos keine Würdigung verdienen, könnte man ‚früher‘ oder ‚vormals‘ vor die Bezeichnung setzen und so auf den historischen Rahmen hinweisen.“ Beispielsweise also: “Neurodegeneration mit Eisenablagerung im Gehirn, vormals Hallervorden-Spatz Syndrom”. „Eine solche Vorgangsweise hätte den Effekt, dass wir weniger an die wissenschaftlichen Leistungen solcher Forscher erinnern, sondern vielmehr an ihre Verstöße gegen grundlegende medizinische Ethik.“
Abstract:
ENS abstract P266: Kondziella, Neurological eponyms of perpetrators, victims and bystanders in the Nazi era. Full article: EurNeurol 2009-62: 56-64
 

24.06.2009

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