Der schwebende Magnet
Universitätsklinikum Tübingen installiert ersten beweglichen MRT in Europa zur intraoperativen Bildgebung
Wenn sich in der Neurochirurgie der Universitätsklinik Tübingen, Deutschland, ein 5 Tonnen schwerer Kernspintomograph an der Decke des Operationssaals von Prof. Dr. Marcos Tatagiba in Bewegung setzt, dann sind keine übernatürlichen Kräfte am Werk, sondern eine Systemtechnologie, die momentan so noch Alleinstellungsmerkmal in Europa hat.
Die Neurochirurgische Klinik am Universitätsklinikum Tübingen wurde unter der Leitung von Prof. Dr. Marcos Tatagiba seit 2004 ständig modernisiert und erweitert und zählt heute mit rund 3200 Operationen pro Jahr zu den größten in Deutschland. Die Klinik verfügt über modernste Medizintechnologie, die seit Frühjahr 2011 . durch das intraoperative MRT ergänzt wird. „Trotz der hochtechnologischen Ausstattung der Klinik steht bei uns aber stets der Patient als Mensch im Mittelpunkt“, versichert PD Dr. Dr. Feigl.
Im Oktober 2010 begann die aufwändige Installation des iMRI-Systems inklusive einer HF-Kabine, die den Operationssaal vor störenden Frequenzen von außen schützt. Und die Montage des Stahlrahmens auf dem der 1,5-Tesla-Magnet in 90 Sekunden von der geöffneten Magnet Bay – vom Tübinger Team kurz als „Garage“ bezeichnet – bis zum Operationstisch fährt. Die feierliche Eröffnung der iMRI-Unit Tübingen und des nach Prof. Garnette Sutherland benannten OP-Saals mit dem IMRISneuro-System, der insgesamt 5 Millionen Euro gekostet hat, fand schließlich am 15. April 2011 statt.
Alles in einem Akt
Seitdem operiert das Team einen Patienten pro Tag. Hauptindikation sind die hirneigenen Tumoren erklärt PD Dr. Dr. Feigl: „Vor allem die niedrig gradigen Gliome nehmen kein Kontrastmittel auf. Visuell unterscheidet sich das Gewebe oft kaum vom normalen Hirngewebe. Man hatte so früher bis zum erstem postoperativen Bild am Tag nach der Operation nicht die absolute Gewissheit, dass der Tumor auch wirklich vollständig entfernt werden konnte. Durch das neue System haben wir als erste neurochirurgische Klinik in Europa die Möglichkeit, noch während des Eingriffs zu kontrollieren, ob die Resektion erfolgreich war oder nicht, ohne den Patienten bewegen zu müssen, wie dies bei Systemen mit stationären Magneten nötig wäre.“
Und so erledigen die Neurochirurgen heute von der bildgebenden Planung bis zur postoperativen Bildgebung alles direkt im OP-Saal, in enger Zusammenarbeit mit der Neuroradiologie des Hauses unter der Leitung der Ärztlichen Direktorin Frau Prof. U. Ernemann. Gerade bei Eingriffen am Gehirn bringt dies viele Vorteile, berichtet PD Dr. Dr. Feigl: „Sobald ein operativer Zugang zum Tumor durchgeführt wird und im weiteren Operationsverlauf, wenn Tumorgewebe entfernt wird, verschiebt sich das Gehirn, was als „brain shift“ bezeichnet wird. Die präoperativen Bilder, die für die Neuronavigation dienen, stimmen dann nicht mehr mit der Realität überein und müssen aktualisiert werden. Nach Abschluss der OP machen wir noch einmal eine postoperative MRT-Aufnahme, die sonst erst am nächsten Tag separat gemacht werden würde. Die prä-, intra- und postoperativen MRT-Bilder fusionieren wir dann an der Workstation zu einer Vorher-Nachher-Serie, die eine genaue Darstellung des Operationsergebnisses ermöglicht.“
Sicherheit geht vor
Bevor sich die Stahltür zwischen Magnet Bay und OP-Saal öffnet und der Kernspintomograph per Schalterbedienung über den speziellen nichtmagnetischen OP-Tisch gefahren wird, führen die Mitarbeiter einen standardisierten Sicherheits-Check durch, für den sie extra geschult wurden. Mit handschriftlichen und computergeführten Checklisten wird sichergestellt, dass auch wirklich alle ferromagnetischen Instrumente und Geräte außerhalb der 5 Gauß-Linie platziert worden sind. Drei farblich markierte Gauß-Linien um den OP-Tisch herum zeigen an, in welchen Zonen welche magnetische Anziehungskraft herrscht.
Die Anschaffung einer speziellen nicht-magnetische OP-Ausrüstung ist nicht notwendig. Wenn der Magnet in seiner Parkstellung hinter verschlossenen Türen im Nebenraum, der Magnet Bay, steht, kann man sich wieder frei mit den Instrumenten im OP-Saal bewegen.
Vielversprechende Aussichten
Die iMRI-Unit Tübingen verfügt über ein spezielles volumetrisches Neuronavigationssystem (MedSurgical, Sunnyvale California). Der Unterschied zu herkömmlichen Neuronavigationssystemen besteht darin, dass alle Bildschichten zusammengefügt werden und so das ganze Volumen des Schädels auch intraoperativ in einer 3D-Rekonstruktion dargestellt werden kann. Mit diesem System ist es auch möglich, Gewebeschichten transparent zu machen. So kann der Neurochirurg mit dem Pointer des Systems in den Schädel des Patienten hineinschauen noch bevor der Schädel geöffnet wurde, um so den schonensten operativen Zugang zu planen.
Es werden auch wichtige funktionelle Daten, die präoperativ akquiriert wurden wie z.B. die motorischen Hirnareale und die Faserbahnen, eingespielt, um so kleinstmögliche Operationszugänge unter Erhalt aller Funktionen durchführen zu können. In Zukunft plant das Team funktionelle MRT-Bildgebung mit dem IMRISneuro-System auch intraoperativ durchzuführen, denn Tumore in der Zentralregion des Gehirns können die normale Anatomie derart räumlich verschieben, dass die allgemeinen Landmarken für bestimmte Funktionsareale im Gehirn ihre Gültigkeit verlieren. Noch dazu ist es wichtig, von diesen Funktions- oder Motorarealen ausgehende Hirnbahnen darzustellen, weil diese ebenfalls verschoben werden können.
Weitere Anwendungsfelder sollen Epilepsieeingriffe, Tiefe-Hirnstimulationen, Operationen an der Hirnanhangsdrüse sowie Operationen bei Gefäßmissbildungen wie Aneurysma und AVM werden. „Wir befinden uns noch ganz am Anfang unseres Erfahrungsspektrums mit dem neuen System. Jetzt geht es erst richtig los“, meint PD Dr. Dr. Feigl.
IMRIS kommt nach Europa
Seit 2005 bietet IMRIS, Inc. mit Hauptsitz in Winnipeg, Kanada, bildgestützte Therapielösungen (Image Guided Therapy Solutions) für die Neurochirurgie, den neurovaskulären und kardiovaskulären Bereich an. Entwickelt wurde die Technologie des verfahrbaren MRT’s in den 90er Jahren von Dr. Garnette Sutherland, Neurochirurg am Foothills Hospital in Calgary, zusammen mit Dr. John Saunders vom Canadian National Research Council (“NRC”) Institute of Biodiagnostics in Winnipeg. Bereits 50 Kunden in Nordamerika, dem asiatisch-pazifischen Raum und jetzt auch in Europa arbeiten mit den IMRIS-Systemen, das in individuellen Raumkonfigurationen zur Verfügung steht. Schon im September folgt die zweite neurochirurgische Installation am Clinatec Krankenhaus in Grenoble, Frankreich, bei Prof. Dr. Alim-Louis Benabid. Zum ersten Mal in Europa wird in Grenoble eine Zwei-Raum-Lösung realisiert, die aus einem Operationssaal und einem Raum für die diagnostische Bildgebung besteht.
Bericht: Karoline Laarmann
02.09.2011