Artikel • „Das ist wie Körperkino“
Cinematic Rendering in der chirurgischen Bewährungsprobe
Um in das Innere eines Menschen hineinzusehen, bieten sich dem Mediziner grundsätzlich zwei Wege: Der eine führt über das Skalpell, der andere über bildgebende Verfahren. Beide Optionen haben klar definierte Vor- und Nachteile.
Bericht: Wolfgang Behrends
Quelle: Chirurgische Klinik des Universitätsklinikums Erlangen
Das Beste aus beiden Welten vereinen soll nun das von Siemens Healthineers entwickelte Cinematic Rendering, ein neues Verfahren zur 3D-Visualisierung. Schon im Namen lässt sich die Vaterschaft der Filmindustrie erkennen – doch die Technik kann erheblich mehr als nur beeindruckende Bilder liefern.
Der menschliche Körper ist ein Wunderwerk, seine Anatomie komplex. „Diese Komplexität ist allerdings nicht leicht zu überschauen, das gilt insbesondere für den OP“, sagt Dr. Christian Krautz. Der Chirurg leitet aktuell die klinische Evaluierung des Cinematic Rendering für die Chirurgie am Universitätsklinikum Erlangen. Die fotorealistische 3D-Darstellung herkömmlicher DICOM-Bilder, die das neue Verfahren bietet, ermöglicht eine schnelle Orientierung im Körperinneren. „Die Technik erleichtert das konkrete Erfassen der individuellen Anatomie erheblich“, lautet Krautz‘ Einschätzung. „Das ist wie Körperkino. Sogar für erfahrene Chirurgen ist das ein Wow-Effekt – und eine erhebliche Erleichterung für das Gehirn“, pflichtet ihm Prof. Dr. Robert Grützmann, Klinikdirektor der Chirurgie, bei.
Mehr Übersicht unter schwierigen Bedingungen
Doch wie tragen spektakuläre Bilder zum Behandlungserfolg bei? Als konkretes Beispiel der Vorzüge schildert Christoph Löhr, Senior Manager Strategy bei Siemens Healthineers, eine typische Leber-OP: „Die Leber ist ein stark durchblutetes Organ, umgeben von großen Mengen an Fettgewebe. Man kann verbundene und angrenzende Gefäße weder mit dem Auge noch auf einem Bild erkennen. Selbst erfahrene Chirurgen sind neben ihrem gesammelten Wissen auf ihren Tastsinn angewiesen; sie erfühlen den Verlauf eines Gefäßes mit den Händen.“ Die Gefahr, etwas zu übersehen und dadurch den Patienten zu gefährden, ist groß. Eine dreidimensionale Darstellung der Lagebeziehungen ist in dieser Situation enorm hilfreich. „Und genau das ist per Cinematic Rendering mit einem Klick möglich“, so Löhr. Die Bedienung der Software ist bewusst übersichtlich gehalten, über Filterfunktionen lassen sich wahlweise Knochen, Gefäße und Gewebe gezielt ein- und ausblenden. Dadurch erhält man ein Bild, auf dem man ein medizinisches Problem auf den ersten Blick erkennen kann.
Quelle: Hospital do Coração, São Paulo, Brasilien
Die „Demokratisierung des Tumorboards“
Für die klinische Studie werden retrospektiv Fälle untersucht, um die Stärken des neuen Verfahrens zu testen. Löhr: „Wir zeigen Chirurgen sowohl die DICOM-2D-Aufnahmen als auch die Cinematic-Rendering-Bilder und befragen sie dann, wie sie auf Grundlage der jeweiligen Bilder entscheiden würden. Dabei behandeln wir insbesondere komplizierte Fälle – zum Beispiel Pankreas oder Leber – Organe, wo wir den größten Mehrwert und mehr Sicherheit durch die neue Technik erwarten. Dort erforschen wir auch, welche weiteren Einsatzbereiche in Frage kommen.“
Denn die Entwickler sehen noch eine ganze Reihe zusätzlicher Gebiete, auf denen Cinematic Rendering glänzen dürfte. „Großes Potenzial sehen wir bei der Lehre, Patientenkommunikation und in der Forensik“, erläutert Dr. Klaus Engel, Principal Key Expert bei Siemens Healthineers und Erfinder des Cinematic Rendering. „Auch Tumorboards werden von der neuen Technik profitieren, weil die Bilder einfacher zu interpretieren sind. Das wird zu einer Demokratisierung des Boards führen, zu einem schnelleren Konsens und im Zweifel zu einer besseren Entscheidung für den Patienten“, ergänzt Grützmann.
Ausgefeilte Algorithmen für praxistauglichere Aufnahmen
Hinter den generierten Computerbildern, die so realistisch sind, dass sie bisweilen den Exponaten der „Körperwelten“ ähneln, steckt ein ausgeklügelter Algorithmus, der ähnlich wie in Hollywoodfilmen für spektakuläre Effekte sorgt: „Im Gegensatz zu den bisherigen 3D-Bildgebungsverfahren zeichnet sich Cinematic Rendering durch seine physikbasierte Berechnung aus“, erklärt Engel. Während bislang Raycasting zum Einsatz kam, das Lichtstrahlen strikt als gerade Linien berechnet, berücksichtigt das neue Verfahren auch erheblich komplexere Faktoren wie die Reflexion und Streuung der Lichtteilchen. Das schafft nicht nur kinoreife 3D-Aufnahmen, sondern bietet auch einen medizinischen Mehrwert: „Ein entscheidendes Merkmal ist der realistische Schattenwurf“, erläutert der Erfinder. „Unser Auge ist von Geburt an darauf trainiert, feinste Schattierungen zu differenzieren und daraus die räumliche Lage eines Objekts abzuleiten. Ein Schatten kann zum Beispiel anzeigen, wie tief eine bestimmte Struktur ist. Diese Zusatzinformationen fehlten bislang bei der 3D-Bildgebung – das machte die Abschätzung der räumlichen Lage, zum Beispiel von Überlappungen, sehr schwierig. Das neue Verfahren verhilft zu plastischer Orientierung. Vor allem in der Chirurgie sehen wir ein wichtiges Anwendungsgebiet, bei dem dieser Fortschritt zum Tragen kommt.“
Zwar ist Cinematic Rendering technisch höchst anspruchsvoll, kann aber an vielen Stellen zum Einsatz kommen. „Denn mittlerweile ist die Technik so weit fortgeschritten, dass PCs mit der nötigen Rechenleistung weit verbreitet sind. Auch die bildgebenden Verfahren wie CT, MRT, PET und Ultraschall sind flächendeckend verfügbar. Das System ist DICOM-kompatibel, spezielle Standards sind nicht nötig“, äußert sich Engel zuversichtlich.
In Zukunft könnte sogar die Realität „erweitert“ werden
Derzeit befindet sich Cinematic Rendering für die Chirurgie in der Entwicklung . „Im Rahmen der Prototypen-Studie haben wir uns vor allem auf den Aspekt der Therapieplanung konzentriert“, erklärt Dr. Stefan Assmann, Director Adjacent Fields bei Siemens Healthineers. „Aus den Rückmeldungen der Chirurgen erkennen wir, dass Cinematic Rendering dort eine große Zeitersparnis mit sich bringen kann.“ Auch Prof. Grützmann sieht großes Potenzial im neuen Verfahren: „Ich denke, viele Anwendungsmöglichkeiten wird man erst noch im praktischen Einsatz erkennen. Vielleicht wird es irgendwann sogar möglich sein, die Bilder als Augmented Reality während der OP in einer Brille anzuzeigen.“ Und Dr. Klaus Engel äußert sich begeistert: „Stellen Sie sich vor, Sie haben präoperative Aufnahmen und können diese während der OP auf den Patienten projizieren – man kann gewissermaßen in den Patienten hineinsehen, bevor man ihn überhaupt geöffnet hat. Besonders sinnvoll wäre das bei minimal-invasiven Eingriffen.“
Profil:
Dr. Klaus Engel ist der Erfinder der Cinematic Rendering-Technik. Der Informatiker ist seit 2009 als Principal Key Expert bei Siemens Healthineers tätig. Dort ist er spezialisiert auf die Bereiche Visualisierungsforschung, Prototyping und Software-Entwicklung. An den Algorithmen für Cinematic Rendering hat Engel mehrere Jahre gefeilt.
25.08.2017