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App für mehr Sicherheit bei der Narkose
„Eine Narkose ist wie ein Flug!“ - Wenn erfahrene Anästhesisten einem Laien oder einem Medizin-Studenten die Narkose erklären möchten, verwenden sie gerne diesen plakativen Satz.
Und kaum ein Anästhesie-Professor würde dieser Aussage widersprechen. Denn eine Narkose ist nicht nur in ihrem Ablauf mit einem Flug vergleichbar, sie ist auch dann besonders sicher, wenn sie den Sicherheitsanforderungen eines Fluges entspricht: Der Pilot - sprich der Anästhesist - muss den Flug - also die Narkose - gründlich planen und überlegen, wohin die „Reise“ gehen soll, wie das „Wetter“ auf der Strecke sein wird und welche „Mittel“ er braucht, um ans Ziel zu gelangen. Einem sicheren „Flug“ - sprich einer guten Narkose - sollte dann eigentlich nichts mehr im Wege stehen.
Nun wollen sich die Anästhesisten nicht nur für eine normale Narkose an der Luftfahrt orientieren, sondern ganz besonders auch im Notfall auf Verfahren aus dem Flugzeug zurückgreifen. Dazu hat eine Arbeitsgruppe um den Erlanger Anästhesisten, Privatdozent Dr. Michael St. Pierre, in Zusammenarbeit mit dem „Berufsverband Deutscher Anästhesisten“ (BDA) und der „Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin“ (DGAI) mit der „eGENA“-App ein Programm entwickelt, das dazu beitragen soll, Probleme während einer Narkose noch sicherer zu bewältigen.
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Anästhesie: eine Erfolgsgeschichte
„Die Patientensicherheit hat sich in der Anästhesie in den vergangenen rund 60 Jahren enorm verbessert wie in kaum in einem anderen Fach der Medizin“, bekräftigt Prim. Priv.-Doz. Dr. Achim von Goedecke, MSc, Leiter des Instituts für Anästhesiologie und Intensivmedizin am Landeskrankenhaus Steyr in Oberösterreich. Demnach spielt die Anästhesiologie eine Schlüsselrolle bei der Senkung…
„eGENA“ steht für „Elektronische Gedächtnis- und Entscheidungshilfe für Notfälle in der Anästhesie“. Mit der App ist ein naheliegender Gedankengang verbunden, wie der Leiter der Arbeitsgruppe Dr. St. Pierre erklärt: „Unter Stress, in einem Notfall, stehen wir oft auf dem Schlauch. Uns fallen wichtige Gedanken nicht ein. Wir haben Schwierigkeiten, Dosierungen zu berechnen. Und da tun es uns gut, wenn wir etwas haben, das wir mit wenigen Handgriffen aufschlagen und zu Rate ziehen können.“ Die App kann auf den Webseiten des BDA und der DGAI kostenlos heruntergeladen und auf dem Tablet oder am Computer im Operationssaal geöffnet werden. Der Arzt wählt eine Notfallsituation aus und sieht dann eine Checkliste mit den Symptomen, Sofortmaßnahmen, Diagnosemöglichkeiten, Therapiemöglichkeiten und Differentialdiagnosen des ausgewählten Problems.
Im Idealfall wurde der Einsatz von „eGENA“ in der Klinik vorher trainiert, sodass ein Teammitglied die Checkliste vorliest, während ein anderes die Schritte abarbeitet -wie bei einem möglichen Zwischenfall während eines Fluges. Die Therapievorschläge in „eGENA“ orientieren sich dabei an aktuellen medizinischen Leitlinien.Um die Kliniken bei dem Training zu unterstützen, wurden Schulungsunterlagen entwickelt, die ebenfalls zum kostenlosen Download zur Verfügung stehen. Die App-Entwickler betonen jedoch, dass ihr Tool weder ein Ersatz für fundiertes Wissen in der Anästhesie ist, noch für die Verpflichtung, die Patientenversorgung auf Grundlage des Facharztstandards individuell zu gewährleisten. Der Anästhesist muss wissen, was er im Notfall zu tun hat. Die App verhilft ihm lediglich dazu, es schneller vollständig zu erledigen.
Das, was man in Ruhe gedanklich simuliert hat, das steht einem dann unter Zeitdruck und im wahren Leben schneller zu Verfügung
Michael St. Pierre
Der Pilot fliegt im Cockpit seine Maschine, der Anästhesist steuert an seinem Narkosegerät im OP die Narkose: In Vorbereitung, Ausführung und Notfällen gibt es bei beiden Prozessen Parallelen, aber auch Unterschiede. Dr. St. Pierre wählt als Beispiel den Unterschied zwischen dem Ausfall eines Triebwerks und dem Abfall der Sauerstoffsättigung: „In der Luftfahrt kann der Ingenieur dem Piloten sagen: Diese sieben oder acht Schritte: Wenn man die in der Reihenfolge einhält, dann ist das Problem des Triebwerksausfalls behoben. Bei einer abfallendenden Sättigung hingegen lässt sich das Problem nicht mit den immer gleichen sieben oder acht Schritten erledigen. Denn Patienten sind unterschiedlich, der Kontext ist verschieden, und es kommen viele Möglichkeiten in Betracht.“ Aber gerade dann profitiere man von den Hinweisen, die „eGENA“ bereithält: „Könnte dies die Ursache sein?“ „Hast Du an jene Möglichkeit schon gedacht?“ Um zu unterstreichen, dass Patienten keine Flugzeuge sind und sich Probleme in der Medizin nicht anhand starr vorgegebener Abläufe lösen lassen, sei für das Projekt auch bewusst der Name „Gedächtnis- und Entscheidungshilfe“ und nicht „Checkliste“ gewählt worden.
Die „eGENA“-App soll auch nicht erst bei Problemen im OP angewendet werden. Die Anästhesisten können sie schon in der Vorbereitung auf mögliche Notfälle aufrufen und die Abläufe studieren: „In den ruhigen Minuten, die wir in der Anästhesie auch schon mal haben, können sich die Kollegen einzelne Notfälle vornehmen und gedanklich noch mal durchspielen“, sagt Dr. St. Pierre. „Denn das, was man in Ruhe gedanklich simuliert hat, das steht einem dann unter Zeitdruck und im wahren Leben schneller zu Verfügung.“ Die Arbeitsgruppe um Dr. St. Pierre wird die „eGENA“-App natürlich auch pflegen und weiterentwickeln. Ab dem kommenden Jahr wird es auch möglich sein, das Programm auf Mobiltelefonen zu verwenden. Damit können sich Patienten in Narkose noch sicherer fühlen als bisher.
Quelle: Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin e.V. (DGAI) / Berufsverband Deutscher Anästhesisten e.V. (BDA)
25.07.2020